Peter Prange

„...als würde man in seinen eigenen Träumen spazieren gehen.“

09.2012 Die Histo-Couch im Interview mit Peter Prange über die katholische Kirche, Recherchen vor Ort und seinen Lateinunterricht in der Schule.

Histo-Couch: Ein zwölfjähriger Junge wird zum Papst gewählt – man würde nicht auf solch eine Idee kommen, wenn es nicht tatsächlich passiert wäre. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestossen?

Peter Prange: Ich würde gern antworten: Der heilige Geist hat mich erleuchtet. Und beinahe war es auch so. Immerhin, kein Geringerer als Seine Heiligkeit, Papst Benedikt XVI., vulgo Joseph Ratzinger, hat mich auf die Spur gebracht, in dem Interview-Buch „Über Gott und die Welt“. Dort habe ich, in einem winzig kleinen Nebensatz, den Hinweis auf den anderen Benedikt entdeckt, den neunten seines Namens, der im 11. Jahrhundert angeblich als Kind den Thron bestiegen hat. Als ich das las, traute ich meinen Augen nicht. Doch die einschlägigen Lexika bestätigten den Fund. Den Kinderpapst hat es wirklich gegeben. Was für eine unglaubliche Geschichte! Und was für ein Glück für einen Autor, auf eine solche Geschichte zu stoßen! Bis heute kann ich nicht begreifen, wie diese rätselhafte Gestalt fast tausend Jahre lang im Dunkel der Vergangenheit verschwinden konnte.

Histo-Couch: Wie entwickelt man aus den wenigen Fakten einen Roman, die nicht zur Vorlesung wird und den Leser trotzdem unterhält?

Peter Prange: Ein historischer Roman ist immer eine Mischung aus Imagination und Recherche. Das Entscheidende ist die Imagination: Wie interpretiere ich die Figur, um die es geht? Die wichtigsten Fakten, die man über den Kinderpapst weiß, sind schnell aufgezählt. Dreimal wurde Benedikt vom Thron vertrieben, dreimal kämpfte er sich an die Macht zurück – das versprach eine spannende Story. Einmal verkaufte er sein Amt an seinen Taufpaten, um seine Cousine zu heiraten, doch die Ehe kam nicht zustande – damit hatte ich die Liebesgeschichte. Vor allem aber: Sein Pontifikat gilt als eines der grausamsten der Kirchengeschichte. Hier setzt die Imagination ein. Benedikts Grausamkeit war, so meine Interpretation, ein Produkt aus Überforderung und erzwungenem Liebesverzicht. Er wurde zum Unmenschen, weil er an der übermenschlichen Aufgabe scheiterte, Gottes Stellvertreter zu sein. Und weil ihm die Liebe verwehrt war, nach der er sich sein Leben lang sehnte, die Liebe zu seiner Cousine. In dieser Sicht lassen sich auch seine Untaten deuten. Er beutete sein Volk gnadenlos aus, er war lasterhaft wie Caligula und lüstern wie ein türkischer Sultan. Doch so entsetzlich uns seine Taten scheinen – vielleicht war sein Leben in Wahrheit ein einziger verzweifelter Schrei nach Gott.

Histo-Couch: Es dürfte einmalig sein, dass ein Papst fünf (!) seiner Nachfolger im Amt kennen gelernt hat! Warum hat er sich immer wieder inthronisieren lassen, obwohl er es ja scheinbar von Anfang an gar nicht wollte?

Peter Prange: Bei seiner ersten Inthronisation war Benedikt noch ein Kind. Doch ein Kind mit Idealen. Auch wenn er entsetzliche Angst vor der Bürde dieses übergroßen Amtes haben musste, schien er gewillt, es im Sinn seines geistigen Ziehvaters Giovanni Graziano ausfüllen. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass er zu Beginn seines Pontifikats eine Reihe positiver Reformversuche angestoßen hat. Aber er konnte sich offenbar nicht gegen die Kardinäle und andere Kirchenpotentaten durchsetzen. Sein Amt war ja auch ein sehr politisches Amt, er sollte als Papst die Macht seiner Familie, der Tuskulaner, stärken, die schon zwei Päpste vor ihm auf die Cathedra gebracht hatten. In dieser Situation entwickelte sich eine Eigendynamik. Benedikt konnte gar nicht frei entscheiden, ob er Papst sein wollte oder nicht, zu stark waren die Kräfte, die auf ihn einwirkten. Und am Ende brauchte er die Macht, um Chiara, der Liebe seines Lebens, zu beweisen, dass er nicht der Teufel war, für den alle Welt ihn hielt.

Histo-Couch: Wie nähern Sie sich einer Person wie Benedikt IX., die zwar real ist, über die es aber nicht viel authentisches zu berichten gibt?

Peter Prange: Von innen und von außen. Von außen mit Hilfe der Kirchengeschichte sowie der römischen Stadtgeschichte. Kriege, Konzile, Synoden, in die Benedikt verwickelt war, sind dokumentiert und geben Hinweise auf die Rolle, die er selber darin spielte. Da ich in Tübingen lebe, der Stadt mit der größten Professorendichte pro Quadratmeter in Deutschland, bekam ich dabei jede Menge hochqualifizierter Unterstützung. Hinzu kommt, dass mein Agent Roman Hocke nicht nur in Rom lebt, sondern so ziemlich jeden Stein dort kennt. Mit ihm war ich in an allen Orten des Geschehens, auch in Grottaferrata, dem Kloster, das eine bedeutende Rolle in meinem Roman spielt. Noch wichtiger aber als die historische und Vor-Ort-Recherche ist die innere Annäherung an die Figur. Ich glaube, man muss als Autor von seinen Helden ganz wesentliche Charakterzüge in sich selbst wiederfinden, um sie glaubwürdig darstellen zu können. Wenn dies nicht der Fall ist, kann man sich zu Tode recherchieren – die Helden bleiben leblose Pappkameraden. Wenn ich sie aber in meiner eigenen Seele entdecke, kann ich sie mit den Fakten der historischen Vergangenheit anfüttern und wieder zum Leben erwecken. Was mich mit Benedikt vor allem verbindet, ist sein verzweifelter Glaube – an die Liebe und an Gott.

Histo-Couch: Wie ist es, durch die selben Gemäuer zu laufen wie die eigene historische Romanfigur?

Peter Prange: Das ist, als würde man in seinen eigenen Träumen spazieren gehen. Und gleichzeitig ist es für einen Autor ganz selbstverständlich. Schließlich ist das ja alles „seine Welt“, in der er seit Wochen und Monaten Tag für Tag haust. Als ich im Kloster Grottaferrata war, hatte ich zum Beispiel das Gefühl, als würde es die Abtei überhaupt nur geben, weil ich sie ersonnen hatte. Ich weiß, das klingt total durchgeknallt, muss aber so sein. Ohne eine solche Aneignung kann ich als Autor keine Lebenswelt erschaffen, in der die Leser zusammen mit meinen Figuren leben, lieben und leiden.

Histo-Couch: Gibt es etwas – außer dem Namen -, dass Benedikt IX. mit dem aktuellen Papst Benedikt XVI. verbindet?

Peter Prange: Die Suche nach Gott. Hoffe ich zumindest. Bei meinem Benedikt bin ich mir da ganz sicher. Bei dem heutigen Benedikt vielleicht nicht so ganz. Dafür tut dieser sich, so zumindest mein Eindruck, erheblich leichter in Sachen Liebesverzicht.

Histo-Couch: Gibt es noch andere Figuren in dem Roman außer Benedikt, die etwas mit ihnen gemeinsam haben? Erkennen wir in irgend einer Person mehr von Peter Prange?

Peter Prange: Meine Lieblingsfigur ist Petrus da Silva, der Kanzler des Vatikans, der sich mit allem, was er tut, ganz in den Dienst der heiligen Kirche stellt. In ihm konnte ich meinen jahrzehntelang unterdrückten Katholizismus ausleben, buchstäblich nach Herzenslust. Die Kapitel, die ich aus seiner Perspektive schrieb, schrieben sich praktisch von allein. Ich musste meinem Protagonisten nur meine Hände zur Verfügung stellen, damit er auf meinem Computer zur Sprache fand, so wie ein Ikonenmaler mit seinen Händen nur als ein Werkzeug des Heiligen Geistes ausführt, was dieser ihm eingibt.

Histo-Couch: Wenn es die Möglichkeit gäbe, dass Sie für 24 Stunden Papst wären – und angenommen, man würde auf Sie hören – wofür würden Sie Ihr Pontifikat nutzen?

Peter Prange: Dass die Messe wieder auf Latein gelesen wird. Im Ernst! Der Glaube ist ein Geheimnis. All die Dinge, die im Glauben verhandelt werden: die Dreifaltigkeit Gottes, Marias unbefleckte Empfängnis, Jesu Wiederauferstehung – entziehen sich unserem Verständnis. Wenn wir aber diese Ungeheuerlichkeiten auf Deutsch vor uns hinbeten, bilden wir uns ein, wir würden sie dadurch verstehen. Was natürlich vollkommener Unsinn ist, und Hochmut obendrein. Mit solcher Pseudorationalität bringen wir nur uns selber um das Größte und Schönste, was der Glaube zu bieten hat: das Wunder. Außerdem: Der Glaube – als Lehre verstanden – bedeutet immer auch ein Stück Ewigkeit angesichts der Veränderlichkeit des Lebens. Was der Glaube gebietet, wird nicht nach sich wandelnden Erfordernissen des Alltags entschieden, sondern steht von allem Anfang an fest – bis in alle Ewigkeit. Und welche Sprache wäre besser geeignet, die geoffenbarte, unwandelbare Wahrheit zu bezeugen als das unwandelbare Latein?

Histo-Couch: Wie steht es um Ihre Lateinkenntnisse? Haben Sie es in der Schule ebenso gehasst wie viele Schüler?

Peter Prange: Omnia gallia divisa est in partes tres …Ja, ich habe das Große Latinum. Aber das habe ich erst im zweiten Anlauf geschafft – ich bin in der Obersekunda (so nannte man damals noch die 11. Klasse) wegen Mathe und Latein sitzen geblieben. Natürlich war daran mein Lehrer schuld. Der hat mich – kein Witz – von allen Aufgaben entbunden. Ich brauchte keine Hausaufgaben zu machen, wurde nie im Unterricht aufgerufen – ich musste nur die Klassenarbeiten mitschreiben. Dafür, so lautete der Deal, musste ich ihm versprechen, nicht seinen Unterricht zu stören (worin ich allerdings hervorragend war). O tempora, o mores …

Histo-Couch: Können Sie uns verraten, wer die Figur auf dem Buchcover ist? Ist es womöglich eine Darstellung von Benedikt IX.?

Peter Prange: Leider nein, das ist ein späterer Papst. Das erkennt man an der Tiara auf seinem Kopf. Die dreistufige Tiara gab es zu Benedikts Zeiten noch nicht. Der Name des abgebildeten Papstes ist unbekannt.

Histo-Couch: Die Rahmenhandlung des Romans ist eine mögliche Seligsprechung Benedikts IX. Hätten Sie dafür gestimmt?

Peter Prange: Die Rahmenhandlung ist eine Verbeugung vor dem großen Tübinger Gelehrten und Schriftsteller Walter Jens. Seine Erzählung „Der Fall Judas“ stand Pate bei der Idee, Benedikts Lebensgeschichte in einen Prozess zu seiner Seligsprechung einzubinden. Wie mein Votum ausgefallen wäre, verrate ich nicht hier, doch dafür am Ende des Epilogs.

Histo-Couch: In vielen – vor allem auch historischen – Romanen kommt die katholische Kirche nicht gut weg. Es wimmelt von Intrigen, Machtgehabe und Klischees, dass die Kirche und ihre Vertreter korrupt, machtgierig und irgendwie gar nicht so religiös seien. Oder, um ihren Roman zu zitieren (S. 443) : „Ein Papst, der betet? Das glaubt uns kein Mensch!“ Macht die Kirche sich selbst unglaubwürdig?

Peter Prange: Die Stiftung der Kirche ist göttlichen Ursprungs, doch als Institution wird sie von Menschen geführt. Und deren Schwächen wie auch Stärken spiegeln sich in der Kirche wider. Das habe ich versucht zu zeigen – nicht nur in den negativen Figuren. Einige Protagonisten des Romans, zum Beispiel der Einsiedler Giovanni Graziano, leben ja wirklich durch und durch für den Glauben. Auch wenn sie immer wieder scheitern, geben sie ihren Glauben nicht auf. Das zeichnet sie aus, und das zeichnet auch die Kirche aus. Bis heute.

Histo-Couch: Was lesen Sie selber, um zu entspannen, wenn Sie sich nicht gerade mit einem neuen Roman befassen?

Peter Prange: Obwohl ich eigentlich Thriller hasse, habe ich gerade einen gelesen: „Alles muss versteckt sein“, von Wiebke Lorenz. Der Roman (es geht um eine Frau mit Zwangsgedanken, die nicht weiß, ob sie eine Mörderin ist oder nicht) ist zwar Spannung pur, von der ersten bis zur letzten Seite, doch zugleich viel mehr. Ein existenzielles Drama auf höchstem Niveau, eine Höllenfahrt ins eigene Ich, ein Gleichnis über die Macht der Gedanken, im Guten wie im Bösen. Ein wirklich außergewöhnliches Buch.

Histo-Couch: Können Sie uns mehr über ihre künftigen Projekte verraten?

Peter Prange: Beim Schreiben am „Kinderpapst“ ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Alle meine historischen Romane haben einen inneren Zusammenhang, von dem ich selber bislang nichts wusste. Kein Wunder. Manchmal wurde mir ja vorgeworfen, ich sei ein „Epochenhopper“, der sich kreuz und quer durch die europäische Geschichte schreibt: Rom, Paris, London – mal in der Neuzeit, mal in der Renaissance, mal im Mittelalter. Doch eben das ist, wie mir jetzt zu meiner eigenen Überraschung aufgegangen ist, kein Zufall. Alle meine Romane haben geistige Wendezeiten zum Thema, epochale Ereignisse, die zu unserem heutigen Selbst- und Weltverständnis beigetragen haben. Im „Kinderpapst“ geht es um das Verhältnis von irdischer und geistiger Macht, in der „Philosophin“ erzähle ich von dem Kampf der Aufklärung um das Recht des Menschen auf Glück und Selbstbestimmung, die „Rebellin“ schildert Glanz und Elend des Fortschritts. Mein Lebensziel ist es nun, tausend Jahre europäische Geistesgeschichte in zehn historischen Romanen zu erzählen. Wenn ich damit fertig bin, kann ich beruhigt ins kühle Grab sinken.

Das Interview führte Carsten Jaehner.

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