Vergessene Seelen

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2018
  • 4
  • dtv, 2018, Titel: 'Vergessene Seelen', Originalausgabe
Vergessene Seelen
Vergessene Seelen
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Jörg Kijanski
851001

Histo-Couch Rezension vonJun 2018

Oberkommissar Heller sollte kein Geheimtipp mehr sein

Dresden, Juni 1948. Die Zerstörung durch den Krieg ist noch allgegenwärtig, dennoch geht es langsam voran. Baustellen prägen das Stadtbild, ein Mann stürzt tödlich in einen Schacht, aber war es nur ein Unfall? Oberkommissar Max Heller und sein Mitarbeiter Werner Oldenbusch sind gefragt, schon verlangt ein weiterer Fall ihre Aufmerksamkeit. Auf der Baustelle der Technischen Hochschule wird ein vierzehnjähriger Junge gefunden. Stürzte er bei einer Mutprobe in den Tod, war es Selbstmord oder half jemand nach? Die Antwort bleibt lange unklar, der Fall könnte ungelöst zu den Akten gelegt werden, doch als Heller den Leichnam am Tatort untersuchte, stellte er fest, dass der Körper des Jungen namens Albert Utmann voller blauer und schwarzer Flecken war; die Folgen von Schlägen über einen längeren Zeitraum.

"Natürlich wurde in der Ruine nach Opfern gesucht. Aber warum sollte man den Schutt abtragen? Dafür gibt es gar keine Leute, es gibt Wichtigeres zu tun. Wissen Sie eigentlich, was Ihr Vorgehen für Konsequenzen hat? Das geht jetzt den ganzen langen Weg über das Schulamt, die Partei, das Rathaus, die SMA, bis hin zur Polizeidirektion. Das sind alles Leute, die sich zweimal die Woche treffen, beim FDGB, in den Senatsausschüssen, bei der DSF, bei SED-Versammlungen. Da kennt jeder jeden. Da stehen Sie komplett außen vor! Wenn Sie wenigstens in eine der Blockparteien eintreten würden. In die LDPD oder die NDPD."

"Würde das an den Tatsachen etwas ändern?"

Schnell gerät dessen Vater Karl in Verdacht, der nicht nur seine Kriegserlebnisse im Suff ertränkt, sondern auch regelmäßig seine Frau und die übrigen Kinder schlägt. Die Prügel ist jedoch kein Grund für eine Verhaftung und da die Mutter alles geduldsam über sich ergehen lässt, sind Heller die Hände gebunden. Dennoch bleibt er hartnäckig, werden bei ihm doch böse Erinnerungen aus seiner Vergangenheit zutage befördert, die er längst verdrängt zu haben glaubte. An der Schule von Albert stoßen Heller und Oldenbusch auf weitere Ungereimtheiten. Offenbar schlossen sich mehrere Jugendliche zu einer Diebesbande zusammen. Als es zu weiteren Todesfällen kommt, mischt sich plötzlich Klaus Heller, inzwischen Mitarbeiter beim DVdI (Vorläufer des späteren Ministeriums des Inneren), in die Ermittlungen seines Vaters ein. Er verdächtigt die Jugendlichen der Sabotage und Spionage und Karl Utmann als ideologisch unbelehrbar. Streit ist vorprogrammiert, zumal er seinen Vater bittet, die Ermittlungen einzustellen...

Ein Unrechtsstaat entsteht und der Leser ist mittendrin

Vom 17. bis 25. Juni 1948 spielt der dritte Fall von Kriminaloberkommissar Max Heller, dessen Reihe längst kein Geheimtipp mehr sein sollte. Ganz im Gegenteil braucht sie den Vergleich mit anderen Serien aus der Epoche der Weltkriege keineswegs zu scheuen. Atmosphärisch dicht wie schon bei den Vorgängern erlebt der Leser die Ermittlungsarbeit, sowie das Entstehen eines neuen Unrechtsstaates, der die Familie Heller mit voller Wucht trifft. Werden Max und Karin ihren Sohn Erwin, der seit Kriegsende im Westen lebt, jemals wiedersehen? Immerhin freuen sie sich über dessen Pakete, die er über Schweden nach Dresden schickt, da Pakete aus dem Westen von den Sowjets überprüft werden. Diese sind bitter notwendig, denn es fehlt an vielen Dingen, vor allem an Lebensmitteln und Kleidung. Viele Menschen leiden und schimpfen über "die Russen", wer kann geht in den Westen, während andere für ein sozialistisches Deutschland nach sowjetischen Vorbild kämpfen. Nie wieder Faschismus, so denkt Klaus Heller, dessen Vater mit Schrecken erlebt, dass er seinen Sohn an die neue totalitäre Ideologie zu verlieren droht. Dabei war man doch froh, eine Diktatur gerade erst vor wenigen Jahren überstanden zu haben, deren verheerende Spuren noch allgegenwärtig sind.

"Haben Sie das auf dem Kongress beigebracht bekommen? Hatten wir nicht erst einen solchen Staat? Wohin hat es denn geführt, dass die Gemeinschaft über das Individuum gestellt wurde?"

Heller brauchte gar keine Antwort. Sie tat sich vor ihnen auf. Das zerstörte Bürgerhaus, die ausgebrannte Hofkirche, die eingestürzte Oper, die tote Fassade des Schlosses, die Reste des Taschenbergpalais und der Zwinger, dessen Überreste wie das Skelett eines riesigen Urzeittieres aus dem Boden ragten.

Wer sich dafür interessiert, wie der neue Staat entsteht und das Leben der Menschen beeinflusst, dem sei ergänzend Leaving Berlin von Joseph Kanon empfohlen. In dessen Buch geht es - neben dem Krimiplot - darum, wie die deutschen Intellektuellen im Osten der Hauptstadt dem neuen sozialistischen Staat, in dem alle Menschen gleich sind, entgegenfiebern. Endlich wird alles gut, während sich im Hintergrund die Gefängnisse mit Andersdenkenden füllen.

In Vergessene Seelen findet Autor Frank Goldammer einen gelungenen Mix aus Krimi, Zeitgeschichte und Privatleben des Protagonisten. Der Krimiplot ist zweigeteilt (Diebesbande und Todesfälle) und manchmal derart verworren, dass selbst Max Heller den Überblick verliert. Spannende Unterhaltung in jeder Hinsicht. Noch eine gute Nachricht zum Schluss: Drei Tage vor Weihnachten dieses Jahres erscheint die Fortsetzung Roter Rabe.

Vergessene Seelen

Frank Goldammer, dtv

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