Anja Marschall

09.2018 Die Histo-Couch im Interview mit Anja Marschall über ihre Romanreihe, Schleswig-Holstein und Arbeiten mit Microfiche.

Die Geschichten finden mich

Histo-Couch: Frau Marschall, in Ihrem Roman „Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal“ ermittelt Kommissar Hauke Sötje bereits zum dritten Mal. Was inspirierte Sie zu dieser Krimi-Reihe Ende des 19. Jahrhunderts?

Anja Marschall: Es ist bestimmt zehn Jahre her, dass ich mit Freunden beim Italiener saß und mich schrecklich aufregte. Wir sprachen gerade über historische Romane, die damals der Hype waren. Ich liebe historische Romane und vor allem gute historische Krimis, aber damals fielen mir allzu oft schlecht recherchierte Bücher in die Hände: Die junge Maid, die dem König erklärt, wie er seinen Job zu machen hat. Der Reiter, der im 9 Jh. einen am Weg stehenden Bauern nach der Uhrzeit fragt. Falsche Daten, falsche Zusammenhänge, Kitsch hoch fünf. Es war kaum auszuhalten. Als meine Freunde beim Tiramisu die Nase von meinem hitzigen Monolog voll hatten, schlugen vor: Dann mach´s doch besser. So entstand 2012 „Fortunas Schatten“, ein historischer Krimi aus der Kaiserzeit, der weder Zeit noch Ort als banale Kulisse versteht, sondern als vitalen Teil der Geschichte.

Histo-Couch: Hauke Sötje ist ehemaliger Kapitän und in diesem Buch erfährt man mehr über seine Vergangenheit. Gib es für Sötje ein reales Vorbild?

Anja Marschall: Oh ja, und: leider nein. Sie kennen sicherlich den „Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Dort heißt der Held Hauke Hajen. Er ist mein Vorbild. Ein schweigsamer Mann, der gegen Althergebrachtes mit Hilfe von Klugheit und Wissenschaft kämpft. Es gibt sogar ein optisches Vorbild für meinen Hauke. Der Künstler Jens Rusch illustrierte vor Jahren – fast schon wie in einem Kinofilm – den „Schimmelreiter“. Eine Zeichnung aus dem Buch tat es mir besonders an, und so sieht Hauke Sötje heute in meinem Kopf aus. Dass das Modell für Jens Rusch sein damaliger Zahnarzt war, stört mich nicht.

Histo-Couch: Haukes Verlobte Sophie bekommt mehr Raum im Roman und wird auch aktiver in den Ermittlungen. Wie war das Frauenbild zu dieser Zeit?

Anja Marschall: Sehr viel konservativer als uns heute bewusst ist, aber in einer atemberaubenden Umbruchphase. Mit der Figur der Sophie versuche ich zu zeigen, wie eng das Leben von Frauen damals war, und dass es einer Menge Mut bedurfte, um sich von Konventionen zu lösen. Ob es nun der Wunsch war, einer erfüllenden Arbeit nachzugehen (Sophie ist Lehrerin aus Leidenschaft) oder den Mann zu heiraten, den man heiraten möchte, es waren immer andere, die über die Frauen bestimmten. Suffragetten, wie sie später hießen, waren die Seltenheit. Mich interessiert der alltägliche Kampf, den Mütter, junge Mädchen, alte Frauen, Arbeiterinnen und Damen der besseren Gesellschaft zu kämpfen hatten. In Haukes nächsten Fall, „Tod in der Speicherstadt“ (erscheint 2019), wird Sophie eine noch größere Rolle in den Ermittlungen einnehmen müssen, denn es geht um ein verschwundenes Kind und eine reiche Familie, die behauptet, dieses Kind habe es nie gegeben. Für meine Sophie wird es eine Tragödie, die sie an den Rand des Erträglichen bringen wird. Mit anderen Worten: Sophie ist meine Botschafterin der Frauen von früher und für heute.

Histo-Couch: Wie sieht es in Schleswig-Holstein zu dieser Zeit politisch aus? Und wie ist die Quellenlage zu dieser Zeit?

Anja Marschall: Euphorie. Die Menschen im jungen Kaiserreich leben in einer Zeit der Blüte. Überall neue Erfindungen, viele Arbeitsplätze in der Industrie für jedermann, überall wird gebaut, Optimismus wohin man schaut. Selbst die Armen, die Verlierer, hoffen noch immer, vom glorreichen Kuchen einen Krümel abzubekommen. Einzig diese Sozialisten stören das Bild. Und das nachhaltig.

Für meinen nächsten Hauke Sötje Krimi „Tod in der Speicherstadt“ wird der Kommissar mitten in die Hafenarbeiterstreiks hineingeworfen. Es geht um Ausbeutung, die entsetzliche Armut in den Gängevierteln Hamburgs und das Überleben. Hauke wird, wie auch schon in den vergangenen Fällen, ein zeitpolitischer Chronist des Kaiserreichs. Ohne Schnörkel und Pailletten. Kein ständiges Unterrockrauschen, keine Kanapees, keine ach-so-romantische Liebe, sondern dreckiges Trinkwasser, einsames Sterben, Macht und Gier, Unterdrückung und Hoffnung auf die Krümel der Zeit. Glücklicherweise hat Hauke seine Sophie. Leider kommt aber immer wieder etwas dazwischen, wenn es um den Termin der Heirat geht.

Die Quellenlage zum ausgehenden 19. Jahrhundert ist gut bis sehr gut. Vor allem in Hamburg, wohin mich meine Recherche in den letzten Monaten öfter verschlägt, ist perfekt ausgestattet. Man findet hier ein ausgeprägtes Interesse an der eigenen Vergangenheit und eine Menge Historiker, die sehr spezielles Wissen vorzuweisen haben, von dem ich als recherchierende Autorin sehr profitiere.  Schwieriger war es in Kiel, wo ich für „Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal“, Haukes Fall Nr 3, recherchierte. Kiel wurde im 2. Weltkrieg komplett kaputtgebombt. Es gibt kaum noch Material über das damalige Schloss in der Stadt. Dort aber spielt ein nicht unerheblicher Teil des Buches. Ich musste erstmals meine Phantasie mehr bemühen, als es mir recht ist, denn ich versuche was Orte, Zeit und Menschen angeht, so dicht wie möglich an der damaligen Realität zu bleiben. Ich hoffe, dass mir in „Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal“, wie damals der Nord-Ostsee-Kanal hieß, ein authentisches Bild von Kiel im Jahre 1896 gelungen ist.

Histo-Couch: Sie stammen selber aus Hamburg. Verarbeiten Sie auch ein bisschen Ihre eigene Familiengeschichte in den Romanen?

Anja Marschall: Kein Autor kann frei von seiner eigenen Vergangenheit schreiben. Darum: ja. Bei mir kommen Grafen zumeist schlecht weg, weil mein Vater &. Aber, das ist eine andere Geschichte. Oft geht es bei mir um Menschen, die mindestens eine gravierende Lebenserfahrung gemacht habe so wie mein Kommissar Hauke Sötje. Und im Moment dieser Erfahrung müssen sie entscheiden, wie es mit ihnen weitergeht: leben oder sterben, gut oder böse. Ja, meine Geschichten haben immer auch etwas mit mir zu tun.

Histo-Couch: Vom Ambiente mal abgesehen – wie konstruieren Sie Ihre Kriminalfälle?

Anja Marschall: Im Mittelpunkt ist der Mensch und das, was er am dringendsten haben will. Liebe, Geld, Macht, Anerkennung, Seelenfrieden. Was auch immer. Jeder von uns hat einen tiefen Wunsch, für den er bereit ist, mehr zu tun als für alles andere. Doch ist er auch bereit, dafür zu morden? Mit liegt am Herzen, dass meine Bösewichte auch das Zeug zum guten Menschen haben. Irgendwie kann man ihr Handeln verstehen. Und stets fragen wir uns, ob wir es an seiner oder ihrer Stelle ebenso gemacht hätten. DAS macht einen Krimi interessant.

„Abgesehen vom Ambiente“ geht bei mir leider nicht. Gerade meine historische Reihe um meinen Ex-Kapitän und jetzigen Kommissar Hauke Sötje lebt von der Zeit und dem Ort. Seine Fälle können NUR DORT und ZU DIESER ZEIT spielen. Als Beispiel sei der Vorgänger von meinem aktuellen Krimi genannt: „Tod am Nord-Ostseekanal“ (erschien 2015). Der Fall spielt 1894/5 an der Baustelle des weltweit größten Kanalprojektes des Kaisers, dem Nord-Ostsee-Kanal. Er ist nicht nur Atmo oder Hintergrundkulisse. Der Kanal ist Teil des Falles, ja, der wichtigste Protagonist sogar. Dieses Buch gäbe es ohne den Kanal überhaupt nicht. Und da es um einen Bauingenieur auf eben dieser Baustelle geht, kann der Fall eben nur zu dieser Zeit spielen.

Für mich ist ein guter historischer Krimi ein Krimi, der nur an diesem Ort, mit diesen Menschen und zu dieser Zeit spielen kann. Ich mag es nicht, wenn das Historische nur als hübsche Kulisse missbraucht wird, denn die Vergangenheit will uns etwas sagen. Wir müssen nur zuhören.

Histo-Couch: Wie lange haben Sie für „Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal“ gebraucht?

Anja Marschall: Der Verlag hätte am liebsten jedes Jahr einen neuen Sötje-Krimi. Das freut mich zwar, hält mich aber auch ganz schön unter Dampf, denn ich schreibe die Krimis ja nicht nur, sondern muss sie auch recherchieren. Und da mein Hauke Sötje nicht immer an einem Ort ermittelt, sondern in ganz Schleswig-Holstein und im nächsten Krimi auch in Hamburg (Speicherstadt!), musste ich mir eine effiziente Art des Recherchierens angewöhnen. Recherche 6 Monate plus Schreiben 8 bis 10 Monate. Wenn ich super flott bin, klappt es auch manchmal mit 6+6. Kommt aber eher selten vor.

Histo-Couch: Haben Sie Mitspracherecht für die gelungenen Cover, die ja scheinbar Fotografien aus der Zeit zeigen?

Anja Marschall: Danke, für das Kompliment! Ja, die Cover sind wirklich, wirklich klasse und ich bin dem emons Verlag sehr dankbar dafür, dass man als Inspiration jenes Cover wählte, welches Hauke Sötjes 1. Fall („Fortunas Schatten“, Dryas Verlag, 2012) schmückte. Ja, ich rede mit, wenn es ums Cover geht. Wir verwenden authentische Fotos der Zeit und des Ortes, an dem der Fall spielt, damit der Leser sofort in die Atmo des wilhelminischen Kaiserreiches hineingezogen werden kann. Zumeist gebe ich ein paar Fotos zur Auswahl und den Rest machen dann die Profis im Verlag. Ich finde, die Buchcover aller Sötje-Bände absolut klasse und schon für sich genommen ein Kunstwerk! Solche Bücher stelle ich mir auch gerne ins Regal.

Histo-Couch: Den Kapiteln sind jeweils Zeitungsanzeigen der damaligen Zeit vorangestellt, teilweise recht kurios für unsere heutigen Geschmäcker. War es schwer, eine Auswahl zu treffen? Wie kamen Sie auf die Idee dafür?

Anja Marschall: Die Idee ist, dem Leser im Buch ein Maximum an Authentizität zu bieten. Originale Kartenausschnitte, super Recherche mit viel authentischem Ambiente. Und um noch mehr echte Atmo in die Story zu bekommen, kam mir die Idee, Originalausschnitte einer damaligen Zeitung vor den jeweiligen Kapiteln einzubauen. Und auch hier: es mussten Zeitungen sein, die in genau der Gegend und zu der Zeit erschienen, in der mein Kriminalroman spielt.  Ich will, dass der Leser nicht nur den Fall genießt, sondern am Ende auch ein Gefühl für die Zeit hat, in der er spielte. Meine Leser sollen beim Lesen zu einem Teil des Buches mutieren.

Histo-Couch: Wie haben Sie recherchiert? Tatsächlich in Archiven über alten Zeitungen und dann die Anzeigen herausgeschrieben?

Anja Marschall: Exakt. Genauso. Für „Fortunas Schatten“ bin ich in das örtliche Stadtarchiv von Glückstadt marschiert – manchmal mehrmals die Woche -. Dort habe ich mir weiße Handschuhe angezogen und ehrfürchtig in den großen Foliobänden geblättert und jede einzelne Ausgabe von 1893 per Hand durchgeforstet, ob da eine lustige Anzeige oder ein interessanter Artikel zu finden ist.

Für „Tod am Nord-Ostseekanal“ hatte ich es komfortabler, da eine aktive Historikergemeinde in Brunsbüttel einen Teil der „Kanalzeitung“ bereits digitalisiert hat und ich von zuhause aus arbeiten konnte. Zumindest, wenn es um die Zeitung ging. Für alles andere schlug ich meine Zelte dann im Archiv von Brunsbüttel auf. Weniger glücklich hatte ich bei den Zeitungsrecherchen für „Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal“. Hier habe ich viel Zeit im Landesarchiv und im Stadtarchiv von Kiel verbracht, um u.a. die Ausgaben der „Kieler Neusten Nachrichten“ von 1896 zu sichten. Die aber gibt es nur als sog. Microfiche, also auf einem Film, den man mit einem archaisch anmutenden, riesigen Lesegerät – sieht aus wie ein uralter Fernseher -  lesen muss. Da die Aufnahmen klein, also wirklich klein, ich meine damit klitzeklein (!) sind, konnte ich kaum etwas entziffern. Mit einer billigen Lupe, die ich mir in einer nahen Drogerie kaufte, ging es dann ein wenig besser. Aber stellen Sie sich mal vor: Da sitzt eine Verrückte mit einer Lupe vor einem altmodischen Lesegerät und versucht, leise vor sich hin fluchend, etwas zu entziffern. Glauben Sie mir, nach drei Tagen konnte ich den Arm nicht mehr heben und mit den Kopfschmerzen hatte ich fast eine Woche später noch meine Freude.

Histo-Couch: Ist es ein Unterschied, ob man über eine fiktive oder über eine reale Figur schreibt?

Anja Marschall: Ein klares: Njain. Derzeit bereite ich einen biografischen Roman über eine reale Person vor, die im viktorianischen England um 1850 gelebt hat. Es ist schwierig, die Geschichte mit den Fakten 1:1 in Einklang zu bringen. Zumindest, wenn jemand so viel Fantasie hat, wie ich. Eine fiktive Person hingegen muss von A bis Z komplett neu erfunden werden UND dabei muss sie stimmig sein. Ersteres ist viel Planungsarbeit. Zweiteres bedeutet die Erfindung eines Menschen. Schon Gott wusste, dass das manchmal in die Hose gehen kann. 

Histo-Couch: Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Morde, Ihre Geschichten?

Anja Marschall: Ich kann es Ihnen nicht sagen. Sie finden mich. Meistens aber gibt es eine Gemeinsamkeit: reale Vorkommnisse drehen sich in meinem Kopf zu einer „Was wäre wenn“-Frage. Was wäre, wenn der ehrbare Kaufmann H gar nicht so ehrbar war, wie alle dachten? Und, schwupps, hat er eine Leiche im Keller und mein Kommissar Sötje muss mal wieder ausrücken. Was wäre, wenn eine Rentnerin sich gegen ihre Armut wehrt? Und, schwupps, habe ich meine Lizzi auf Mörderjagd. 

Histo-Couch: Was machen Sie als Ausgleich zum Schreiben? Fällt es Ihnen schwer, abzuschalten?

Anja Marschall: Das ist meine private Krux: ich kann nicht abschalten. Im Schlaf plotte ich Geschichten und feile an Dialogen. Beim Essen murmel ich vor mich hin, weil die eine Szene noch immer nicht richtig passt. Auf außenstehende muss ich manchmal ein wenig schräge wirken. Wenn ich mich mal überwinden kann, dann gehe ich spazieren. Aber glauben Sie ja nicht, dass ich da alleine bin. Da kommen Kommissar Sötje mit oder die Figur meines nächsten Romans. Das hat den Vorteil: Man ist nie allein.

Histo-Couch: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen Tag zur Zeit Ihrer Bücher vor Ort zu verbringen, was würden Sie gerne machen?

Anja Marschall: Ich würde gerne mit einem Viermaster im Sommer 1897 in den Hamburger Hafen einlaufen, anlegen und zusehen, wie die Schauerleute die Ladung löschen und die Quartiersleute die Säcke in die Gebäude der Speicherstadt bringen. Dann würde ich gerne im Oktober bei der feierlichen Eröffnung des Hamburger Rathauses dabei sein und später eine Fahrt mit einer Kutsche durch das weihnachtliche Hamburg machen. 

Das Interview führte Carsten Jaehner im September 2018.
Fotos: © Frauke Ibs

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