Die Stimmlosen

  • Tinte & Feder
  • Erschienen: Januar 2018
  • 3
  • Tinte & Feder, 2018, Titel: 'Die Stimmlosen', Originalausgabe
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Birgit Stöckel
971001

Histo-Couch Rezension vonJul 2018

Bittere Not, alte Seilschaften und das Wirtschaftswunder

Weihnachten 1945, das erste Fest in Friedenszeiten und doch kommt so wenig Freude auf. Auch wenn der Krieg endlich zu Ende, die Naziherrschaft gebrochen ist, so fehlt es doch am Allernötigsten. Es gibt nicht genug Lebensmittel, nicht genug Kohlen und nicht genug von den Dingen des alltäglichen Lebens. Die Menschen leiden bittere Not, auch Paula und Richard Hellmer, ihre Kinder, ihre Familie sowie ihr Freund Fritz Ellerweg und sein Sohn Harri. Dabei können sie noch von Glück reden, denn sie haben eine intakte Sechs-Zimmer-Wohnung, in der es noch fließendes Wasser und Strom gibt, auch wenn sie hier mit elf Personen leben und eine Arztpraxis betreiben. Doch sie leiden Mangel. Außerdem steht der Prozess gegen Richards früheren Chefarzt Krüger an, der viele behinderte Menschen, darunter 22 schwerstbehinderte Kinder, im Rahmen der Euthanasie in den Tod geschickt hat. Doch Richard bekommt deutlich zu spüren, dass er, der gegen Krüger aussagen wird, als Nestbeschmutzer gilt. Denn auch wenn die NS-Diktatur vorbei ist, so sind die alten Seilschaften noch intakt...

Aufgeben ist keine Option

Wie bereits im ersten Band ist es nicht das große Drama, das die Autorin in den Vordergrund stellt, sondern das alltägliche Leben, das mittendrin stattfindet. Die ersten Jahre sind bitter: Hunger und Kälte setzen den Leuten zu, die pro Person zugeteilten Lebensmittel reichen vorne und hinten nicht, sind zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, wenn man sie überhaupt bekommt. Zu hunderten verhungern und erfrieren die Menschen in den Nachkriegswintern, der Anblick von Leichen wird zum alltäglichen Anblick.

Doch Paula, Richard und Fritz finden immer wieder Wege, ihre Familie durchzubringen, wenn auch  laut den Gesetzen der britischen Besatzungsmacht nicht immer legal. Mit der Währungsreform 1948 geht es dann endlich wieder bergauf und dieser Optimismus ist auch in der Geschichte deutlich spürbar.

Melanie Metzenthin verwebt eine Vielzahl an spannenden Themen zu einer packenden Geschichte: Neben den Nachkriegswintern, dem blühenden Schwarzmarkthandel und dem Erfindungsreichtum der Leute werden die Ärzteprozesse bezüglich der Euthanasie, medizinische Errungenschaften, Homosexualität, die britisch-deutschen Beziehungen, Familienkonflikte, das Überwinden von Traumata sowie das Wirtschaftswunder thematisiert. Dabei wirkt das Buch nie überladen oder belehrend, sondern alles fügt sich harmonisch zusammen. Ein großer Vorteil ist dabei die differenzierte Erzählweise der Autorin. Es gibt nie schwarz oder weiß sondern viel mehr Grau in allen denkbaren Schattierungen. Alles hat zwei Seiten und das regt zum Nachdenken an. Besonders schön sind hierbei die Beziehungen zwischen Briten und Deutschen herausgearbeitet. Ihre unterschiedliche Sichtweise auf viele Dinge, der Hass, der das Kriegsende überlebte, aber auch die Versöhnungsbereitschaft. Besonders bedrückend sind die Prozesse gegen Krüger, denn die Richter (und viele weitere Beamte) waren ja auch unter der NSDAP schon im Amt.

Die differenzierte Sichtweise erstreckt sich auch auf die Figuren, die dadurch so lebensecht geworden sind, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie nur der Fantasie entsprungen sind. Natürlich gehören Richard, Paula, Fritz, Arthur und ihre Familien zu den "Guten", aber sie alle haben ihre Fehler und treffen auch manchmal die falschen Entscheidungen. Aber gerade das macht sie so glaubwürdig und so liebenswert. Es ist, als würde man sie wirklich kennen. Erzählt wird das alles mit einem unnachahmlichen Humor, der viele dunkle Stellen für Protagonisten und Leser gleichermaßen erträglich macht.

Zum Schluss geht es zu schnell

Damit diese Rezension - ähnlich wie das besprochene Buch - differenziert wird, seien auch die Kritikpunkte nicht verschwiegen: Fritz ist ein Starchirurg, dem scheinbar alles gelingt - wenn auch manchmal mit einer unverschämten Portion Glück. Auch das Auftauchen einer totgeglaubten Figur dürfte viele Leser überraschen und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er das glaubt. Allerdings legt genau das den Grundstein für einige hochinteressante Konflikte und Entwicklungen. Was am schwersten wiegt, ist das fehlende Gleichgewicht zwischen den ersten Nachkriegsjahren und der Wirtschaftswunderzeit. Während sich die ersten zweieinhalb Jahre (Weihnachten 1945 bis zur Währungsreform) über 430 Seiten erstrecken, gibt es für die letzten fünf Jahre (das Buch endet im September 1953) noch nicht einmal 100 Seiten. Das führt leider dazu, dass plötzlich alles sehr gedrängt wirkt. Auch wenn man den Optimismus  dieser Zeit spüren kann, erreichen die Protagonisten doch gefühlt in sehr kurzer Zeit sehr viel und alles läuft auf das glückliche Ende hinaus. Hier hätten dem Buch nochmal 100 oder 150 Seiten definitiv gut getan. Lediglich die Auflösung eines Handlungsstranges hinterlässt einen herben Nachgeschmack - und bewahrt den Schluss davor, mit rosarotem Glitzer überstreut zu werden.

Doch trotz dieser Kritikpunkte ist Die Stimmlosen ein hervorragend geschriebenes Werk, das nicht nur gut unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt und einen intensiven, glaubhaften Blick auf die Nachkriegszeit wirft. Absolut lesenswert!

Die Stimmlosen

Melanie Metzenthin, Tinte & Feder

Die Stimmlosen

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