Trümmerkind

  • Droemer-Knaur
  • Erschienen: Januar 2016
  • 4
  • Droemer-Knaur, 2016, Titel: 'Trümmerkind', Originalausgabe
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Jörg Kijanski
901001

Histo-Couch Rezension vonOkt 2016

Faszinierende Zeitgeschichte und Familiendrama

April 1945. In der Uckermark liegt Gut Anquist, auf dem Familienoberhaupt Heinrich mit seiner Tochter Clara sowie der Schwiegertochter mit deren beiden Kindern und einigen Hausangestellten lebt. Aber wie lange noch? Die Russen sind auf dem Vormarsch, der Krieg ist verloren. Die Lage spitzt sich täglich zu.

Januar 1947. Der Winter ist eisig, Lebensmittel sind knapp, viele Menschen erfrieren. Agnes Dietz versucht im Zimmer eines ausgebombten Hauses in Hamburg verzweifelt, mit ihren Kindern Hanno und Wiebke zu überleben. Sie klopft Steine, arbeitet als Näherin, doch selbst mit den Lebensmittelkarten reicht es nicht. Ständig fehlt es zudem an Brennholz und so ist es der fünfzehnjährige Sohn, der mit teils gefährlichen Aktionen nach Gegenständen sucht, die sich irgendwie auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen lassen. In einem Trümmerkeller findet er nicht nur ein Holzregal, sondern auch die Leiche einer Frau. Als er Wiebke das Holz in den Bollerwagen legt, steht neben seiner Schwester ein kleiner Junge. Sehr gut gekleidet, doch offenbar ganz allein. Man entscheidet, den Kleinen bei sich aufzunehmen. Das apathische Kind spricht nicht und so nennt man es fortan Joost. Erst viele Jahre später erfährt Joost, dass er ein Findelkind ist und will herausfinden, wer er wirklich ist.

Köln, 1992. Anna Meerbaums Exmann Thomas betreut nach der Wiedervereinigung einen Klienten, der auf Rückgabe seines Eigentums in Sachsen klagt. Daher fragt er Anna, ob ihre Mutter nicht auch Ansprüche anmelden wolle, schließlich gehöre ihr ein altes Gutshaus in der Uckermark. Doch Annas Mutter will davon nichts wissen, sie blockt seit jeher sämtliche Fragen nach der Vergangenheit ihrer Familie ab. Anna beginnt zu recherchieren und löst damit eine Lawine aus...

Detaillierte und brillante Geschichtsstunde

Mechthild Borrmann genießt in Krimikreisen höchste Anerkennung und bereichert mit ihren Romanen seit vielen Jahren das Genre. Auch in ihrem neuesten Werk Trümmerkind bleibt sie ihrem Erfolgsrezept treu und erzählt eine Geschichte in mehreren Erzählsträngen und aus verschiedenen Perspektiven. Dabei bietet die Autorin ein breitgefächertes Repertoire an Themen, welche sie mit beeindruckender Genauigkeit auf gerade einmal 300 Seiten unterbringt. Nicht wenige namhafte Autoren würden bei dem Versuch scheitern, die Fülle an Informationen derart passgenau auf 500 oder noch mehr Seiten zu platzieren, geschweige denn in dieser Kürze. Doch Mechtild Borrmann ist eine furiose Könnerin ihres Metiers.

Mit hohem Einfühlungsvermögen schildert sie die Vorfälle in den letzten Kriegsmonaten auf Gut Anquist. Dann stehen die Soldaten der Roten Armee tatsächlich vor der Tür, für die einstigen Großgrundbesitzer beginnt eine brutale und demütigende Zeit. Ebenso anschaulich werden die Monate im Hamburger Kältewinter 1947 aufgezeigt. Hier geht es der Familie Dietz schlecht. Man kommt kaum über die Runden und was aus Gustav geworden ist, bleibt unklar und belastet die Familie. Besonders Hanno glaubt fest an die Rückkehr des Vaters, der seit Dezember 1942 offiziell als vermisst gilt. Die Geschehnisse in Köln, Jahrzehnte später spielend, sind kaum weniger intensiv. Die alkoholkranke Mutter will mit ihrer Tochter Anna partout nicht über ihre Vergangenheit reden. So macht sich diese auf in die Uckermark und erfährt dort Neuigkeiten, die ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellen. Plötzlich passt nichts mehr zusammen, ihr ganzes Leben scheint auf Lügen aufgebaut, während die Mutter in grenzenlosem Selbstmitleid und absoluter Verdrängung versinkt. Die große Schuldfrage nach Kriegsende - hier ist sie omnipräsent.

 

"Seit ich sie vor fünfzig Jahren da habe liegen sehen, versuche ich sie zu vergessen. So wie all die anderen. Die Verkohlten auf den Straßen, das Schreien und Weinen, die Flammen, die Frau Weiser mit ihrer Tochter vor dem Bunkereingang, die alte Brücker, wie sie am Mantel eines Toten zerrt. Und dann die tote Frau. Später habe ich manchmal gedacht, vielleicht hätte ich zur Polizei gehen müssen. Aber ich durfte da nicht sein, in diesem Keller. Ich hatte Angst, dass sie mich einsperren. Plündern war verboten. Und wenn die mich eingesperrt hätten .. da wär niemanden geholfen gewesen."

 

Inhaltlich soll nicht mehr verraten werden, aber wie letztlich die Erzählstränge zusammenfließen, wie nach Jahrzehnten einige Morde ihrer nicht mehr für möglich gehaltenen Aufklärung plötzlich entgegen sehen, ist beeindruckend. Dass man die genannten Lebenssituationen beinahe körperlich spüren kann - die Angst vor den Russen, die eisige Kälte in Hamburg, die ständigen Lügengebilde - ist der besondere Verdienst einer Autorin, die auch sprachlich überzeugt, den Leser bis zur letzten Seite fesselt. Wie beim Häuten einer Zwiebel wird Schicht für Schicht offengelegt, das Grauen hält schleichend Einzug in das Leben der zahlreichen Figuren, die vom großen Weltgeschehen direkt betroffen sind. Zeitgeschichtlich informativ, voller Empathie, großartige Charakterstudien. Keine Frage, Mechtild Borrmann gehört zu den derzeit interessantesten Autorinnen; auch jenseits des Krimigenres.

Trümmerkind

Mechtild Borrmann, Droemer-Knaur

Trümmerkind

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