Katherine Howe
„Der zweite Roman ist immer schwieriger zu schreiben als der erste“
10.2013 Die Histo-Couch im Interview mit Katherine Howe über Recherchen, die Titanic und Spiritismus.
!!! Spoilerwarnung! Die Antworten enthalten Informationen, die manche Leser vielleicht nicht vor der Lektüre wissen wollen!!!
Histo-Couch: Frau Howe, beschreiben Sie bitte einen typischen Arbeitstag. Sind Sie eine organisierte Autorin?
Katherine Howe: Ich versuche es. Wenn ich an Entwürfen arbeite, koche ich nach dem Aufwachen Kaffee und gehe geradewegs in das Büro meines Hauses. Eine Detailskizze auf einem Spreadsheet ist im Allgemeinen der Ausgangspunkt für meine Entwürfe. So behalte ich den visuellen Überblick über Charaktere und Plotentwicklungen. Zuhause arbeite ich für gewöhnlich ein paar Stunden durch, bevor ich merke, dass der Kaffee alle ist, ich nicht geduscht und noch nicht gegessen habe.
Histo-Couch: Was inspirierte Sie zu einer Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Titanic-Unglücks?
Katherine Howe: Beim Schreiben der Titanic-Geschichte war ich stärker an den Nachbeben des Verlustes als am Unglück selbst interessiert. (Schließlich haben wir alle schon den Film gesehen.) Mich interessieren Zeiten sehr, in denen die Vorstellungen von Realität sich stark von unseren heutigen unterscheiden. „Die Frauen von der Beacon Street“ erzählt die Geschichte der Allstons, einer Familie aus der Bostoner Oberschicht, die sich im Angesicht eines unvorstellbaren Verlustes dem Beginn des 20. Jahrhunderts stellen muss. In den 1910er Jahren war es für Menschen wie meine Romanfiguren normal, spiritistische Medien in dem Bemühen aufzusuchen, mit den Toten zu kommunizieren. Damals glaubten viele Menschen, sogar bekannte Psychologieprofessoren aus Harvard, wie William James, dass sie kurz vor einem wissenschaftlichen Beweis für die Existenz der menschlichen Seele stehen. Als meine Protagonistin Sibyl Allston sich an ein spiritistisches Medium wendet, um das Mysterium des Verschwindens ihres Bruders aufzuklären, findet sie heraus, dass sie in der Lage ist, viel mehr zu sehen, als sie sich jemals vorstellen konnte.
Histo-Couch: Was ist „Geschichte“ für Sie? Eine Art offener Steinbruch, aus dem Sie sich zum Erreichen produktiver Ziele bedienen? Ein Mittel, etwas über die Welt zu erfahren, in der wir leben?
Katherine Howe: Ich habe Geschichte studiert, bevor ich Autorin wurde. Deshalb hat Geschichte für mich vielleicht nicht die Bedeutung wie für andere Autoren, deren Storys in der Vergangenheit spielen. Für mich ist es wichtig, eine fiktionale Welt zu gestalten, die akkurat ist, oder die sich wenigstens der Epoche getreu annähert, über die ich schreibe. Ich denke, es ist auch eine wunderbare Übung in Empathie, sich selbst in die Denkweise von Menschen hineinzufinden, die in einer anderen Zeit gelebt haben, mit einem ganz anderen Verständnis von der Funktionsweise der Welt. Das Schreiben historischer Fiktion bietet meinen Lesern die Gelegenheit, in der Beschäftigung mit historischen Fragen ihren Blick auf die Welt, in der wir heute leben, zu überdenken. Ich frage mich oft, welche unserer Vorstellungen Menschen in 300 Jahren lächerlich finden werden.
Histo-Couch: Der Trend in historischen Romanen ist die Serie. Ihre Romane sind bisher eigenständige Werke, die in verschiedenen Epochen spielen. Haben Sie kein Interesse, eine bestimmte Zeit in den kleinsten Einzelheiten zu ergründen?
Katherine Howe: Ich hatte tatsächlich vor, „Das Hexenbuch von Salem“ zum ersten Band einer Serie zu machen. Dieser Roman untersucht eine Familie von neuenglischen Frauen mit einem Hexerei-Erbe, das von unseren üblichen Vorstellungen erheblich abweicht. Der Roman spielt in verschiedenen Epochen und betrachtet Frauen aus einer Familie im Jahr 1692, einer Zeit heftigster Hexenverfolgungen in Nordamerika, und 1991. In der Planungsphase für den Roman habe ich festgelegt, was mit den Frauen dieser Familie in der Zeit zwischen den beiden Jahren geschehen könnte. Es besteht also die Möglichkeit, dass ich mich der Familie Dane in einer künftigen Arbeit wieder zuwende.
Tatsächlich hat Connie Goodwin, die Protagonistin in „Das Hexenbuch von Salem“, einen Kurzauftritt in meinem dritten Roman, der den Titel „Conversion“ trägt und im Sommer 2014 in den USA erscheinen soll. Es handelt sich nicht wirklich um eine Fortsetzung, aber er wird in der gleichen Welt spielen, mit den gleichen Problemen und Möglichkeiten.
Histo-Couch: Die Epoche, in der ihre Geschichte spielt, ist für die ganze Welt eine Zeit der Besorgnis und des Wandels. Die Rückblenden in das Jahr 1868 beziehen sich auf die Zeit kurz nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, die Romangegenwart erfasst die Jahre von 1915 bis 1917, bevor die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten. Dann der Untergang der Titanic. Das restriktive viktorianische Regelsystem erodiert, und Ihre Protagonisten machen ebenfalls dramatische Entwicklungen durch. Lieben Sie als Autorin destruktive Erzählungsumgebungen?
Katherine Howe: Ja, sehr sogar. Interessiert hat mich die Tatsache, dass meine Charaktere alle während des Viktorianismus erwachsen werden und sich dann fast ohne Vorwarnung mit all dem technologischen und gesellschaftlichen Wandel konfrontiert sehen, der das 20. Jahrhundert erschütterte. Der Familienpatriarch Lan Allston hat sein Vermögen im Handel mit China gemacht, wie viele Männer im Boston des 19. Jahrhunderts. Seine erste Reise, von der der Roman erzählt, machte er 1868, kurz nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg und im Jahr vor der Öffnung des Suez-Kanals, das deshalb das letzte Jahr gewesen ist, in dem Klipper die Meere dominierten. Sibyl wurde zu einer viktorianischen Dame erzogen, lebt aber in ihren Zwanzigern in einer Welt, die beinahe so angefüllt ist mit Automobilen und Telefonanrufen, wie unsere Gegenwart. In zeitgenössischen Bostoner Zeitungen werden Sie sehen, dass die Titanic noch in den Köpfen der Menschen gegenwärtig war, als die Lusitania torpediert wurde. Und diese traumatische Erinnerung war ein Antrieb für unsere Beteiligung am Ersten Weltkrieg. Ich würde sagen, dass auch Menschen unserer Generation eine ähnliche Periode dramatischen technologischen und gesellschaftlichen Umbruchs erleben.
Histo-Couch: Beschreiben Sie bitte Ihren Ansatz in der Erschaffung der Bostoner Gesellschaft. Haben Sie sie entlang bestimmten Dokumentarmaterials modelliert?
Katherine Howe: Absolut. Die Beschränkungen der Oberschicht Bostons in den 1910er Jahren sind in vielen Quellen schön dokumentiert. Ich habe zuerst Romane gelesen, die über diese Epoche von zeitgenössischen Autoren geschrieben wurden, die heute kaum mehr gelesen werden. Einer war „Der selige Mister Apley“ von John P. Marquand. Ein anderer war „Die große Versuchung“ von William Dean Howells. Weitere Details habe ich Tageszeitungen aus dieser Epoche entnommen, mit besonderem Augenmerk auf populären Klatschmagazinen, die sich mit Mode, Automobilen, Skandalen, Partys der höheren Gesellschaft und – ja – sogar Drogenkonsum beschäftigten. Und es mag sich albern anhören, aber ich habe auch einige Zeit im Bostoner Museum of Fine Arts verbracht und mir Bilder aus dieser Periode angesehen. Ich bin auch spät abends in den Straßen von Back Bay umhergestreift.
Histo-Couch: Die zweite weibliche Hauptfigur in Ihrem Drama ist Dovie, die absichtsvoll für die Geschichte entworfen wurde. Würden Sie der Vorstellung zustimmen, dass Dovie ein Eindringling im Leben der Allstons ist, eine Metapher für den Zerfall der gesellschaftlichen Struktur?
Katherine Howe: Dovie dringt ebenso in das Leben der Familie Allston ein wie die Zukunft. In vielerlei Hinsicht ist sie die Vorbotin des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie ist zugleich die Art junger Frau, zu der Eulah Allston, die auf der Titanic gestorbene jüngste Schwester, wahrscheinlich geworden wäre, und das genaue Gegenteil der Art Frau, zu der Sibyl erzogen wurde. Man kann verstehen, warum Harlan von ihr so berauscht ist. Mir gefällt auch die moralische Doppeldeutigkeit sehr, die Dovie vertritt. Sie bringt Sibyl und Harlan dazu, einige potentiell fragwürdige Entscheidungen zu treffen. Aber es sind Entscheidungen, die Sibyl und Harlan in gewisser Weise auch unbedingt treffen wollen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass Sibyl für unser kollektives Unbewusstes steht, sie ist der appetitive Trieb, manchmal destruktiv, aber auch großartig und wunderbar.
Histo-Couch: Ist Dovie im Kleinen die individuelle Ergänzung zur Titanic im Großen?
Katherine Howe: Es stimmt, dass es in der Geschichte zwei wichtige Antriebskräfte für die Entwicklung gibt. Die eine, die Titanic, ist riesig und unpersönlich, und die andere, Dovie, ist sehr persönlich. Der Untergang der Titanic hat zur Folge, dass die Allstons in eine Art frustrierter Erstarrung versinken. Da mit Helen und Eulah die beiden lebhaftesten Familienmitglieder fort sind, hat sich das Stadthaus in der Beacon Street in eine Art permanente Erstarrung zurückgezogen. Sibyl und Harlan wissen nicht einmal, wie verzweifelt sie sind, bis Dovie auf dem Schauplatz erscheint. Dovie steht für Hoffnung und Veränderung, aber eine Veränderung, die mit Furcht und Risiko behaftet ist. Wie bei der Zukunft weiß man auch bei ihr nicht, was sie bringen wird. Veränderung kann Angst machen, selbst wenn man sich nach ihr sehnt.
Histo-Couch: Würden Sie der Idee zustimmen, dass Lannie in gewisser Weise eine Distanz zu dem Leben hat, das er repräsentieren soll?
Katherine Howe: Wenn wir ältere Menschen sehen, haben wir vermutlich die Neigung zu denken, dass sie schon immer so waren wie jetzt. Als wir Lan zuerst begegnen, ist er noch nicht wirklich sehr alt, ungefähr siebzig, noch gesund und kräftig, aber eindeutig ein Patriarch. Lan ist veränderungsresistent und hält sich auf eine emotionale Distanz zu seinen Kindern, die uns heute unverständlich erscheinen mag, aber damals ein wichtiges Merkmal für Männlichkeit war. Ich wollte Lan zeigen, bevor er zu diesem ehrwürdigen Mann wird. Als er seine erste Überseereise nach China unternimmt, werden wir Zeugen der ersten Schritte eines Jugendlichen, der erfährt, zu welchem Männertyp er sich einmal entwickeln wird.
Histo-Couch: Sie ornamentieren Ihre Schauplätze mit zahlreichen Details, betten Ihre Figuren aber so darin ein, dass sie zu einem Bestandteil der Textur werden. Das bedeutet für sie einen geringeren Freiheitsspielraum. Stimmen Sie dem zu?
Katherine Howe: Es stimmt, dass ich mich sehr für Interieurs und historische Details interessiere, teils weil ich persönlich Räume so sinnträchtig finde. Was Sibyl und Lan betrifft, würde ich auf jeden Fall darin übereinstimmen, dass die Ausstattung ihres Stadthauses in der Beacon Street ein goldener Käfig ist. Ich denke aber, dass sie in dieser Hinsicht nicht allein dastehen. Viele von uns haben Probleme damit, sich aus unseren physischen und mentalen Kontexten zu lösen.
Histo-Couch: Spiritismus und Séancen sind anscheinend ein Alltagsphänomen in Ihrem Roman. Haben Sie empirische Befunde, die das untermauern?
Katherine Howe: Es gibt einige Befunde dafür, dass Spiritismus in den 1910ern alltägliche Praxis war. Zum einen existieren aus der Epoche zahlreiche Fotos, mit denen spiritistische Medien ihre einzigartigen Fähigkeiten zu beweisen versuchten, indem sie die Manifestation eines Geistes filmten oder fotografierten. Im Boston Evening Transcript wurden außerdem die Zusammenkünfte bestimmter gefeierter Medien direkt neben den Gottesdienstterminen der anerkannten Kirchen aufgeführt. Um dieser Frage weiter nachzugehen, habe ich schließlich die American Society for Psychical Research besucht. Sie wurde gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in New York und Boston gegründet und existiert heute noch in New York City. Sie verfügen über einige großartige Quellen zu spirituellen Vorstellungen und Praktiken in den 1910ern.
Histo-Couch: Wenden wir uns für die nächsten zwei Fragen der Küchenpsychologie zu. Was hat Sie an der zerfallenden Gemeinschaft und dem Überlebenskampf interessiert? Äußerte sich darin Ihre eigene Auseinandersetzung mit einem Buch, mit dem Sie zufrieden sein wollten?
Katherine Howe: Während der Arbeit an meinem ersten Roman befand ich mich in einem Abschnitt meines Lebens, in dem ich Schwierigkeiten mit den Untersuchungen für meine Doktorarbeit hatte; und es ist eine Abenteuergeschichte in einem eingestandenermaßen akademischen Umfeld. Ich denke, mein Interesse am Thema meines zweiten Buchs war mehr esoterischer als persönlicher Natur. Ich hatte mich schon so lange für die 1910er Jahre interessiert, die ja nun mal zwischen der viktorianischen Epoche und den 1920ern liegen. Es ist eine Epoche, die nicht so stark fetischisiert ist wie die 1920er, gleichwohl aber in vielerlei Hinsicht dramatischere technologische und gesellschaftliche Veränderungen erlebte. Aber Sie haben ganz Recht – viele meiner Schriftstellerfreunde haben mich gewarnt, der zweite Roman sei schwieriger zu schreiben als der erste, besonders wenn man die Leser des ersten Romans zufrieden stellen möchte. Ich habe über diese Warnungen gelästert. Aber es ist wahr – das Buch war schwieriger zu schreiben als mein erstes. Zum einen wollte ich sicher sein, dass ich das historische Material auch beherrsche. Zum anderen fühlte ich eine sehr große Verantwortung gegenüber meinen Lesern, meine Arbeit möglichst gut zu machen.
Histo-Couch: Wollen Sie als Autorin ein bestimmtes Ziel erreichen, wenn Sie an einem Roman arbeiten?
Katherine Howe: Jetzt, da ich drei Romane geschrieben habe, sehe ich, dass meine Ziele sich graduell von Projekt zu Projekt verändern. Allerdings gibt es Ähnlichkeiten. Ich möchte die bestmögliche Arbeit abliefern, damit meine Leser in die Gedanken und die Welt eines anderen Menschen reisen. Das Lesen eines Buches ist für mich ein ganz besonderes Vergnügen, eine so wundervolle Erfahrung, wenn die Welt um mich herum versinkt und durch die Romanwelt ersetzt wird. Das möchte ich auch bei meinen Lesern erreichen. Im Allgemeinen verfolge ich aber auch intellektuelle Ziele. Der erste Roman, „Das Hexenbuch von Salem“, stellt Fragen nach der Beziehung zwischen Gender und dem Studium der Geschichte. Der zweite Roman, „Die Frauen von der Beacon Street“, stellt eine Reihe von Fragen über Suchtwissen, Modernität und den freien Willen. Und der dritte, „Conversion“, betrachtet die Erfahrungen einer Heranwachsenden, deren soziale Wirklichkeit aus der Außenperspektive betrachtet anders erscheint als aus der Sicht innerhalb ihrer Gruppe. In meinem vierten, einer Geistergeschichte, die in der Stadt New York spielt, wird es um Fragen über Visionen, Sehen und Wahrnehmung gehen.
Histo-Couch: Würden Sie bitte Ihr Arbeitsumfeld beschreiben?
Katherine Howe: Früher zeigte mein Büro auf das Dach einer Autowerkstatt und ein Schild, auf dem zu lesen stand „Kein Durchgang“. Heute bietet mein Büro einen Seeblick, was objektiv besser ist, mich aber manchmal nach meiner Autowerkstatt zurücksehnen lässt. Die Wände sind weiß. Wenn ich viele Bücher brauche, um schnell etwas nachzuschlagen, hole ich den Esstisch herein, weil mein Tisch sehr klein ist. Manchmal ziehe ich mich in ein Café zurück, weil die Anwesenheit anderer Menschen, die nicht mit mir sprechen, aber anwesend sind und mich für faul halten könnten, mich antreiben kann. Außerdem habe ich eine Nymphensittichdame in meinem Büro, die mich beaufsichtigt. Sie liefert gerne kritische Kommentare, wenn ich mit meinen Lesegruppen skype.
Histo-Couch: Gibt es etwas, das Ihnen am Schreibprozess missfällt?
Katherine Howe: Wissen Sie was? Absolut gar nichts. Ich kann ohne das Schreiben nicht leben. Genauso gut könnte man mich fragen, ob mir das Aroma der Luft gefällt.
Histo-Couch: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für die Beantwortung der Fragen genommen haben. Und alles Gute für Ihren nächsten Roman.
Katherine Howe: Es war mir ein Vergnügen. Danke für die durchdachten Fragen, und ich hoffe, dass jeder seine Freude mit „Den Frauen von der Beacon Street“ hat.
Das Interview führte und übersetzte Almut Oetjen.
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