Madeline Miller

„Ich würde Achilles gerne singen hören“

11.2011 Die Histo-Couch im Interview mit Madeline Miller über die griechische Antike, Homers Ilias und ihren Besuch der Ruinen von Troja.

Histo-Couch: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, alte, tote europäische Sprachen zu studieren?

Madeline Miller: Ich habe mich schon als kleines Mädchen in das Alte Griechenland verliebt, als meine Mutter mir die griechischen Sagen als Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hat. Am meisten mochte ich die Geschichten um den Trojanischen Krieg und Achilles, und ich erinnere mich, wie ich da saß, fasziniert von ihrer Version der Ilias. Sobald ich in der Schule Latein wählen konnte, ergriff ich die Chance, und entdeckte, dass, abgesehen von den wundervollen Mythen und Geschichten, ich ebenfalls gerne über die Wurzeln der Sprache an sich lernte. Es kam mir wie ein Zaubertrick vor, zu sehen, wie aus dem lateinischen Wort „canis“ („Hund“) das moderne Wort „canine“ (dt. ebenfalls „Hund“, Anm. d. Red.) wurde. So machte ich weiter mit meinem Unterricht nahm bald Griechisch dazu. Als ich schließlich anfing, Geschichten wie die Ilias und Aeneis in den Originalsprachen zu lesen, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab. Seitdem kam ich für den Rest meines Lebens nicht mehr davon los!

Histo-Couch: Was ist denn so faszinierend an diesen Geschichten? Sind es die Helden oder vielleicht die Mischung aus Göttern und Menschen?

Madeline Miller: Ich glaube, dass ein Teil von dem, was ich an diesen Geschichten liebe, damit zusammenhängt, wie diese Geschichten selber mit mir gewachsen sind. Als Kind liebte ich die Abenteuer – magische Kreaturen, Götter und Helden. Aber als ich älter wurde, begann ich Homers scharfsinnige Beobachtungen über die menschliche Natur wertzuschätzen. Seine Charaktere sind voller realistischer Marotten und Fehler, und sie könnten leicht heutzutage genauso leben wie vor dreitausend Jahren. Achilles ist der Held der Ilias, aber er ist schrecklich fehlerhaft, geschlagen mit starkem Zorn und hartnäckigem Stolz. Ich liebe Homers Beschreibung seines Konflikts mit Agamemnon: natürlich müssen sich diese beiden schwierigen Charaktere gegenseitig verrückt machen!
Wundervoll ist auch die Tatsache, dass jedes Mal, wenn ich die Ilias lese, ich etwas neues darin finde: ein aufschlussreiches Detail eines Charakters, das ich bislang übersehen hatte, ein schönes Gleichnis, das mich überrascht. Homers Welt ist so reich, das sie bodenlos erscheint – man wird sich nie langweilen!

Histo-Couch: Warum haben Sie Achilles als Held für ihren ersten Roman gewählt, und warum erzählen Sie die Geschichte aus der Sicht von Patroklos?

Madeline Miller: Ich fand die Geschichte von Achilles immer bewegend, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich liebte seine Energie und seine Ehrlichkeit genauso wie die Tragödie seiner Geschichte: Er zieht in den Krieg und weiß, dass er nie wieder nach Hause zurückkehren wird. Alles, was ihm bleibt, ist, für seinen Ruhm zu leben, und in der Ilias ist Ruhm das einzige, das für ihn wichtig zu sein scheint – bis Patroklos stirbt. Sein Zorn und sein Schmerz über den Verlust seines geliebten Gefährten verfinstern komplett alles andere, sogar seine eigene Selbsterhaltung. Das faszinierte mich, und ich fragte mich: Wer war dieser Patroklos? Und warum bedeutete er Achilles so viel? Ich schrieb das Buch als einen Weg, diese Fragen zu beantworten.

Histo-Couch: Es scheint nicht klar überliefert zu sein, dass die beiden Cousins Achilles und Patroklos eine homosexuelle Beziehung hatten. Sie waren gleich alt, obwohl zu dieser Zeit solche Beziehungen normalerweise aus einem älteren und einem jüngeren Mann bestanden. Warum haben Sie sich für diese Variante entschieden?

Madeline Miller: Die Idee, dass Achilles und Patroklos ein Liebespaar waren, ist tatsächlich schon eine sehr alte. Homer schreibt dies nicht, aber viele andere antike Autoren, darunter Plato und Aeschylus, nehmen eine romantische Beziehung des antiken Paares an. Für mich spricht die Tiefe von Achilles Schmerz, kombiniert damit, wie er leidet (weinend über Patroklos´ Körper, ihn umarmend, ihn nicht gehen lassen könnend), stark sowohl für eine geistige als auch für eine sinnliche Verbindung zwischen beiden.

Die kulturelle Paarung eines älteren Mannes mit einem jüngeren war eine Tradition, die hauptsächlich dem Athen des 5. Jahrhunderts entsprang, weit nach der Zeit des Trojanischen Krieges und Homer, also war es nichts, was für mich wirklich interessant war für die Geschichte. In der Ilias, trotz Achilles´ Kraft und Geschicklichkeit, behandeln sich die beiden Männer als gleichgestellte, und so wählte ich für beide das selbe Alter, um dies wiederzuspiegeln.

Histo-Couch: Achilles hat viele Charakterzüge. Er scheint gut auszusehen, mit vielen Muskeln und wie ein Held, aber ebenso arrogant, und er trainiert nicht, denn man sagt (und er selbst sagt es auch), dass er der beste Krieger seiner Zeit sein wird. Und er weiß das. Wie würden Sie ihn beschreiben? Vielleicht so aussehend wie Brad Pitt im Film von Wolfgang Petersen?

Madeline Miller: Wenn ich mir Achilles vorstelle, sehe ich nicht Brad Pitt (obwohl, wie ich festgestellt habe, viele Leute dies tun!). Tatsächlich habe ich mit der Arbeit an dem Roman vier Jahre begonnen, bevor der Film „Troja“ herauskam, wofür ich sehr dankbar bin – Ich fühle, dass ich das Aussehen der Charaktere bereits im Kopf hatte und so wurde ich nicht mehr beeinflusst von Bildern mit Sean Bean als Odysseus oder Brad Pitt als Achilles.

Wir wissen einige wenige Dinge aus der Mythologie darüber, wie Achilles aussah. Er hatte blondes Haar und wurde beschrieben als der schönste aller Griechen in Troja. Er wurde für seine Größe nicht besonders erwähnt (im Gegensatz zu Ajax), aber er war unglaublich schnell („flinkfüßiger Achilles“, wie er in der Ilias genannt wird). Das führt mich dazu, ihn als muskulös zu bezeichnen, aber eher in einem sehnigen als in einem prallen Sinn.

Was seine Persönlichkeit angeht, ist er, wie sie bereits meinten, bekannt für seinen Stolz und seine Hartnäckigkeit. Eine Qualität, die ich an ihm schätze, ist seine Ehrlichkeit. Er sagt uns in Buch IX der Ilias: „Denn ich hasse den Mann so sehr wie die Pforten des Hades, Der ein andres im Herzen verbirgt und ein anderes ausspricht.“ (Zitat aus der deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voss, IX. Gesang, Zeile 312-313, aus: Homer – Ilias und Odyssee, Parkland Verlag, 2000) Es ist genau diese tiefe Ehrlichkeit, die ihn in so große Schwierigkeiten mit Agamemnon bringt – er kann nicht anders, als dem großen König zu sagen, was er wirklich von ihm denkt, anstatt zu versuchen, ein wenig diplomatischer zu sein. Außerdem schätze ich seine Kunstfertigkeit in Sachen Musik. In der Ilias sieht man ihn die Lyra spielen und sehr schön singen. Und schließlich habe ich vor allen Dingen im Kopf, wie sehr jung Achilles ist. In den Sagen stehen keine wirklichen Altersangaben, aber er ist bestimmt noch ein Teenager, als er in den Krieg zieht.

Histo-Couch: Worüber würden Sie mit ihm sprechen, wenn Sie die Möglichkeit hätten, ihn zu treffen?

Madeline Miller: Ich müsste zunächst mein Altgriechisch wieder aufpolieren! Aber dann würde ich gerne seine Lebensgeschichte in seinen eigenen Worten hören. Und ich würde ihn gerne singen hören.

Histo-Couch: Die mysteriösteste Figur in ihrem Roman ist Thetis, Achilles´ Mutter und selbst eine Nymphe, also eine Göttin. Er spricht häufig mit ihr, und sie mag Patroklos nicht. Ist sie eine Art Bösewicht?

Madeline Miller: Ich würde sie eher als Gegenspielerin denn als Bösewicht bezeichnen. Was sie für ihren Sohn will ist das genaue Gegenteil davon, was Patroklos will. Er und Thetis sind gefangen in einem Kampf um ihre Visionen um Achilles: ist er der süße Junge, der am Berg Pelion aufwuchs? Oder ist der ein furchterregender und gnadenloser Krieger der Vorsehung? Und natürlich ist sie eine absolut grauenerregende Figur, wie es nur Götter sein können, zielstrebig und unnachgiebig, mit absolut keinem Mitgefühl für menschliches Leiden oder Schmerz. Aber sie hat auch ihren eigenen Schmerz: Ihr Sohn das einzige, um das ihr wichtig ist. Wenn er stirbt, wird sie ohne ihn leben müssen, für den Rest der Ewigkeit.

Histo-Couch: Wie ist es, über Götter und Halbgötter und Zentauren und all die mystischen Figuren zu schreiben? In dieser Geschichte sind sie ja real und nicht mystisch.

Madeline Miller: Götter und fantastische Kreaturen sind ein entscheidendes Element der griechischen Mythologie, und dies war etwas, das ich ehren und in der Geschichte belassen wollte. Als ich über Charaktere wie Thetis (eine Meeresnymphe) und Chevron (ein Zentaur) schrieb, versuchte ich, von den alten Geschichten selbst auszugehen, wo sie einfache und nahtlose Teile der Erzählung sind. Über Thetis zu schreiben war besonders lustig – ich wollte ein Wesen kreieren, das die Form eines Menschen hatte, das aber zutiefst fremd und schreckenerregend sein sollte. Ich hatte immer die Sage im Kopf, wie Zeus sich der sterblichen Semele zeigt und sie zu einem Häufchen Asche verbrennt. Ich wollte, dass es für einen Menschen schwer ist, einen Gott anzuschauen.

Histo-Couch: Wie können Sie sich all die griechischen Namen merken? Oder haben Sie eine Liste, um den richtigen Namen der richtigen Partei zuordnen zu können?

Madeline Miller: Ich hatte keine Liste, obwohl ich gelegentlich ein paar Namen nachschlagen musste. Zum Beispiel, bis ich darüber schrieb, wusste ich den Namen des Jungen nicht, den Patroklus getötet hatte, da er nur in ein paar wenigen Quellen erwähnt wird. Ich war froh, dass ich die Ilias häufig genug gelesen hatte, dass ich die meisten der Charaktere, über die ich schrieb, sich mit der Zeit in meinem Kopf festgesetzt hatten.

Histo-Couch: Sind Sie für Nachforschungen nach Troja gefahren?

Madeline Miller: Ich war einmal an der türkischen Küste, als ich jünger war, wenngleich nicht extra in Troja, so hatte ich zumindest eine Idee davon, wie die Gegend aussehen musste. Ich habe auch einmal einen Sommer in Griechenland während einer archäologischen Ausgrabung verbracht und für Reisen, was wirklich sehr wichtig war, um die Orte visualisieren zu können, wo Achilles und Patroklos gelebt haben. Aber mein Ziel war nicht so sehr, das Troja zu rekonstruieren, das Archäologen gefunden haben – stattdessen wollte ich über Homers Troja schreiben, das hauptsächlich in der Fantasie des Dichters existiert. Aber ich habe eine Reise nach Troja gemacht, nachdem das Buch fertig war, als Belohnung dafür, das Buch verkauft zu haben. Und es war unglaublich!

Histo-Couch: Also war es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?

Madeline Miller: Meine Mutter ist im Jahr zuvor in Troja gewesen und hatte mich gewarnt, dass da nicht mehr viel übrig sein würde, also habe ich nicht sehr viel erwartet. Ich glaube, mein schönstes Erlebnis war es, auf den Überresten einer der berühmten alten Türme zu stehen, dem höchsten Punkt der Ausgrabungsstätte, und von dort hinaus auf das Meer zu blicken. Es war einfach unglaublich zu realisieren, dass ich dort stand, wo Priam und Andromache standen (wenn sie denn real waren) und über das Schlachtfeld blickten. Es machte nichts aus, das nicht viel mehr übrig war – meine Fantasie sorgte für den Rest.

Histo-Couch: Was für ein Art Roman ist ihr Buch? Ist es ein historischer Roman, oder eine Sage? Fantasy? Etwas dazwischen?

Madeline Miller: Ein gute Frage! Als ich es geschrieben habe, habe ich nicht über Kategorien nachgedacht, aber nun denke ich, ich würde es „mythologische Fiktion“ nennen – was für mich bedeutet, dass es wie eine historische Geschichte ist, aber statt Details der Vergangenheit zu nutzen, nutzte ich Mythen. Mein Schauplatz war nicht das „reale“ mykenische Griechenland, sondern eher das mykenische Griechenland, wie Homer es sich vorgestellt hatte.

Histo-Couch: Was ist das für ein Ding auf dem Buchcover? Ist das eine Art Schild?

Madeline Miller: Ich glaube, das ist ein Brustpanzer. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich wundervolle Designer für meine beiden Cover habe. Dieses wurde von dem sagenhaften David Mann von Bloomsbury kreiert.

Histo-Couch: Was ist mit der Ferse von Achilles? Warum haben Sie die Geschichte an einem Punkt geändert, dessen Begriff man in jedem medizinischen Lexikon nachlesen kann?

Madeline Miller: Eine der interessanten Dinge über die Geschichte von Achilles und seiner Ferse ist, dass es tatsächlich eine spätere Ergänzung zur Mythologie ist, die Achilles umgibt. Tatsächlich gibt es weder in der Ilias noch in der Odyssee einen Hinweis darauf – in diesen Dichtungen ist Achilles nicht wirklich unverwundbar, er ist nur sehr geschickt im Krieg. Die Geschichte mit der Ferse, wo seine Mutter Thetis ihn in den Fluss Styx taucht, um ihn unsterblich zu machen, kam später. Ich wollte so weit wie möglich in Homers Welt bleiben, und so fand ich, dass die Geschichte mit der Ferse ein wenig zu unlogisch für die Welt war, die ich versuchte zu kreieren (das klingt seltsam, wenn Götter mit im Spiel sind, stimmt aber). Also entschied ich mich dazu, es wegzulassen.

Histo-Couch: Es gibt viele Romane über das alte Rom, aber nur wenige über das alte Griechenland. Können Sie sich vorstellen, warum?

Madeline Miller: Ich bin neu auf dem Feld der Historischen Romane, aber laut meiner Erfahrung habe ich festgestellt, dass die Zahl der Romane über Griechenland und Rom eher ausgewogen ist. Es gab kürzlich einen Boom von historischen Romanen über die Antike generell. Es scheint so, als käme jeden Monat ein neuer Roman über Sparta heraus (ein großes Thema in Amerika), oder Alexander oder den Trojanischen Krieg. Ich denke, in unseren verwirrenden, modernen Zeiten ist es etwas beruhigendes, in vergangene Zeiten reisen zu können, sowohl als Inspiration als auch für die Bildung. Und es scheint derzeit einige Begeisterung um Homer zu geben, beispielsweise mit David Maloufs Roman „Ransom“ über Priam und Achilles, oder „The Lost Book of the Odyssey“ von Zachary Mason. Es gibt außerdem drei neue Übersetzungen der Ilias. Also, wenn Romane um Rom „führen“ sollten, so ist ihnen Griechenland dicht auf den Fersen!

Histo-Couch: In Deutschland gibt es nicht so viele Bücher über das antike Griechenland. Es gibt etwas über Alexander, aber nichts über Sparta oder die Philosophen oder die Sagen. Aber es gibt viele Bücher über Rom, Krimis und so weiter. Also, hier in Deutschland gibt es mehr über Rom als über Griechenland.

Madeline Miller: Das ist faszinierend, dass es in Deutschland mehr Bücher über Rom als über Griechenland gibt. Ich wusste das nicht! (Wie sie an meiner Antwort erkennen können.) Ich weiß auch nicht, warum das so ist.

Histo-Couch: Können Sie uns etwas über Ihre nächsten Pläne verraten?

Madeline Miller: Ich würde gerne weiterhin aus Homers Welt schreiben. Sie ist ein unglaublich reicher und poetischer Platz, mit vielen faszinierenden Charakteren. Um genau zu sein, ich bin zur Zeit mit der Geschichte der Odyssee und mit Circe beschäftigt. Ich bin erst im Anfangsstadium, all dies zu sortieren, also möchte ich noch nicht zu viel darüber sagen!

Das Interview mit Madeline Miller im englischen Original

Das Interview führte Carsten Jaehner. Übersetzung: Carsten Jaehner, mit herzlichem Dank an Rebecca Klarner.

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