Die Lungenschwimmprobe

  • Luchterhand
  • Erschienen: Oktober 2024
  • 4
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Stefanie Eckmann-Schmechta
891001

Histo-Couch Rezension vonFeb 2025

Mit dem Autor auf den Spuren eines wahren Dramas.

Leipzig in Sachsen im Jahre 1681: Die junge Anna Voigt wird beschuldigt, ihr Neugeborenes Kind getötet zu haben. Ein schweres Vergehen zu dieser Zeit; das Gesetz sieht für Kindsmord die Todesstrafe vor. Wissend um diese schlimmste aller Konsequenzen kommen Annas Eltern durch die Aussagen ihrer Bediensteten immer mehr in Bedrängnis. Hinzu kommen die Missgunst und der Standesdünkel der adeligen Nachbarn.

Verzweifelt konsultiert Annas Vater, Hans Heinrich Voigt, den jungen Rechtsgelehrten und Rechtsanwalt Christian Thomasius. Der unterstellte Kindsmord entwickelt sich für die Familie Voigt immer mehr zur Intrige. Auftrieb bekommen ihre Hoffnungen nicht zuletzt durch die Obduktionsergebnisse des renommierten Arztes Dr. Johannes Schreyer. Dieser wendet ein vollkommen neues Verfahren an, um nachweislich festzustellen, ob ein Kind lebend oder tot zur Welt gekommen ist: Die Lungenschwimmprobe.

Als das Wort „Aufklärung“ ein Unwort in den Ohren der Obrigkeit war

Die Geschichte um die unglückliche Gutstochter ist wahr. Der norwegische Erfolgsautor Tore Renberg, dessen literarische Werke in mehr als 23 Ländern veröffentlicht wurden, legt mit „Die Lungenschwimmprobe“ seinen ersten historischen Roman vor. Er selbst, wie er auch im Verlauf des Romans schildert, war für seine umfangreichen Recherchen vor Ort in Sachsen. Vor dem Hintergrund dieser wahren Ereignisse ist es hochinteressant, die Anfänge der Rechtsmedizin - die mit der Geschichte von Anna Voigts wohl ihre allerersten Schritte machte - zu erfahren. Doch 1680 war die Rechtsprechung noch weit davon entfernt, einen wissenschaftlichen Beweis anzuerkennen. Es herrschte allgemein große Skepsis; eher glaubte man der Kirche oder althergebrachten Moralvorstellungen, als sich den logischen Herleitungen der medizinischen Wissenschaft zu öffnen.

Die juristischen Strukturen um das damals geltende Gesetzbuch der Constitutio Criminalis Carolina (kurz: Carolina) das seit 1532 als erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch gilt, sind verknöchert.  Alte Seilschaften machen dem jungen Anwalt Thomasius das Leben schwer, denn bereits 1680/1681 ist der Konflikt zwischen Kirche und Aufklärung im vollen Gange. Sehr packend spannt Tore Renberg den Bogen vom Schicksal der jungen Gutstochter bis hin zu allen Beteiligten dieses langen Prozesses. In vielen Begegnungen und Gesprächen fängt Tore Renberg den damaligen Zeitgeist ein. Wir erleben das manchmal überbordende Temperament des selbstverliebten und ehrgeizigen Juristen Christian Thomasius, der sich „mit dem ganzen Gewicht seiner Fähigkeiten“ einsetzt. Der gewissenhafte und belesene Dr. Schreyer ist ebenfalls nicht frei von Eitelkeiten. Auch ihre Überzeugung von „Fakten, Vernunft und Wissenschaft“, die sie als Gewicht gegen die Artikel der Carolina setzen wollen, eint die beiden stolzen Männer.

Es folgen jedoch zermürbende Jahre – die für Anna ein wahres Martyrium bedeuten sollen. Es wird sich noch zeigen, wie einige es schaffen, ihren Anstand zu bewahren, wohingegen andere jeglichen verlieren, nur, um der Familie Voigt zu schaden. Die Methoden der Carolina sind grausam. Sagen Frauen, wie Anna, dass ihr Kind bereits tot zur Welt gekommen ist, wird ihnen erst dann geglaubt, wenn sie auch nach der Folter bei ihrer Aussage bleiben. Christian Thomasius fragt das Gericht zu Recht, welchen Wert eine auf diese Weise erzwungene Aussage haben kann.

Die Hexenverfolgen ist vorbei

… doch die Kirche versucht noch immer, dem Geschlecht, das ihr noch nie geheuer war, das Leben schwer zu machen, um sie für das was sie sind zu bestrafen: Frauen und Mädchen. Sie macht regelrecht Jagd auf die vermeintlichen Kindsmörderinnen, die in der Regel mit dem Tod der Glücklosen endet.

Den Zynismus dieser Zeit stellt Renberg u.a. sehr eindrucksvoll anhand einer Hinrichtung dar: Bereits Tage zuvor herrscht in der Bevölkerung eine Stimmung wie vor einem „Großevent“, wie man heute sagen würde.  Der hier zur Hinrichtung Verurteilte hat sich des Diebstahls schuldig gemacht. Er stahl das Leinentuch des Herrn Pfarrers. Der Knabenchor der Thomaner singt dazu gottgefällige Lieder. Mit seinem wohl temperierten aber dennoch klar sarkastischen Unterton beschreibt Tore Renberg alle akribischen Vorbereitungen für diesen Akt, bei dem (fast) jeder dabei sein möchte: „Wenn Menschen gequält werden, gibt es viel zu tun.“

Eine Geschichte wie ein Mosaik

Tore Renbergs Sprache wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas nüchtern und sachlich – aber, wenn er uns unmittelbar in die Leben der Protagonisten mitnimmt, auch sehr emotional, blumig, aber auch sehr präzise – je nach Typ und Stimmungslage. Es fallen hier auch wieder Untertöne auf, die er geschickt unter das Erzählte mischt – er wirkt dann wie ein Beobachter, der aus unserer Zeit das damalige Geschehen kommentiert.

Zu seinen vielen Perspektivwechseln und Einblicken zählen auch Briefwechsel – ebenso wie Briefe, die nie abgeschickt werden durften – sowie, wie bereits erwähnt, auch seine eigene Perspektive, als Autor. Damit ordnet er ein, greift auf sehr spannende Weise voraus, leitet damit seine Zeitsprünge ein und macht damit Dimensionen greifbarer. Er holt uns mit in den Moment, als er selbst vor Ort war, um die Atmosphäre, den letzten Spuren dieser Vergangenheit nachzuspüren.

Viele seiner Andeutungen, die er in Zeitsprüngen 40 Jahre voraus einbringt, lassen nichts Gutes erahnen. Ebenso springt er in seiner Erzählung wieder zurück in die Kindheit von Hans Heinrich Voigt, als der 30jährige Krieg tobte, taucht ein, in die schlimme Zeit, als die Pest wütete und die Schweden das Land verwüsteten.

Renberges Schilderungen der auf wahren Begebenheiten beruhenden Lebensgeschichten sind sehr anschaulich, da er in den Alltag der Menschen eintaucht – sie sind ebenso greifbar, wie seine Charakterdarstellungen. Auch die der ganz grausamen Gesellen, wie der Amtmann Walther, der in seinem Übereifer den Adligen zu gefallen, Anna und ihre Mutter steckbrieflich, wie Schwerverbrecher, suchen lässt. Renberg beschreibt den Amtmann als einen bösartigen, sadistischen Menschen von kleiner Statur und einem entgegengesetzt großem Bedürfnis nach Geltung.

Ein weiterer, sehr düsterer Geselle ist ausgerechnet der Beichtvater von Christian Thomasius, der Pastor Johann Benedict Carpzov. Der vielleicht größte Bösewicht, der geschickt im Hintergrund bleibt aber dennoch den Ton angibt; der weiß, welche Strippen er ziehen muss, um seine Interessen durchzusetzen. Ihm geht es in seinem bigotten Gebaren nie um das, was er predigt; gewissenlos versteckt er sich hinter seiner Rolle als Geistlicher, um vielen Menschen im „Namen Gottes“ Furchtbares anzutun. Ganz anders ist hingegen der Schafrichter Heintze, von dem man eher derartiges erwarten würde. Christoph Heintze ist nicht nur ein Familienmensch, sondern auch ein anständiger Mensch mit Manieren und einem guten moralischen Kompass. Er stellt sich dem Geforderten voller Mut entgegen, soweit es ihm in seiner Rolle möglich ist.

Aber auch aus vormals guten Menschen können schlechte werden. Tore Renberg zeigt sehr eindrucksvoll, wie mit dem Prozess gegen Anna Voigt nicht nur ein unschuldiges Leben zerstört wird.  

Fazit

Tore Renbergs „Die Lungenschwimmprobe“ ist ein außergewöhnlicher historischer Roman, da er das Drama längst vergangener Tage auf so vielfältige Weise lebendig werden lässt, dass man an seiner Seite in die Stadt Leipzig um 1680 eintaucht. Ein intensiver Blick zurück in eine Zeit, da so manches unserem Leben ähnlich war, aber zum Glück vieles nicht mehr so ist.

Die Lungenschwimmprobe

Tore Renberg, Luchterhand

Die Lungenschwimmprobe

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