Die Radfahrerin

  • Lübbe
  • Erschienen: März 2023
  • 1
Die Radfahrerin
Die Radfahrerin
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Jörg Kijanski
751001

Histo-Couch Rezension vonJul 2023

Bildgewaltiger Roman über eine selbstbewusste Frau im 19. Jahrhundert

Boston, 1894. Aus einer launigen Wette heraus entsteht ein bahnbrechendes Abenteuer. Literaturprofessor John Dowe wettet, dass es eine Frau schaffen kann, die Erde mit einem Fahrrad zu umrunden. Ein Preisgeld von 10.000 Dollar wird vereinbart, allerdings sind die Wettbedingungen extrem. So soll die gesuchte Heldin beispielsweise ohne Geld starten, gleichwohl mit 5.000 Dollar, die sie behalten darf, zurückkommen. Anna Cohen, geboren in Lettland, ist mit Simon „Max“ Kopchovsky verheiratet und lebt mit ihrem Mann, den gemeinsamen drei Kindern sowie mit Bruder, Schwägerin und deren beiden Kindern im jüdischen Ghetto von Boston in einer beengten Zweizimmerwohnung. Die Wände sind dünn, die Schwägerin nervt und alle haben kaum etwas zu essen, denn Max hat als Hausierer bestenfalls ein karges Einkommen. Daher flüchtet er gern in die Synagoge und überlässt Anna Haushalt und Kinder. Anna verdient sich ein knappes Zubrot, indem sie Zeitungsspalten für Inserate verkauft. So erfährt sie als Erste von einer unglaublichen Anzeige: Gesucht wird eine Frau, die in fünfzehn Monaten mit dem Fahrrad um die Welt fährt, verbunden mit einem Preisgeld für das Anna über 25 Jahre hart arbeiten müsste. Anna lässt sich auf das Abenteuer ein, obwohl sie noch nie zuvor auf einem Fahrrad gesessen hat und setzt sich damit der Verachtung ihrer eigenen Familie aus. Wie kann sie nur ihren Mann und die Kinder zurücklassen?

Zunächst Frauen- und Sozialgeschichte, dann ein bildgewaltiges Abenteuer

Über das Leben der Anna Cohen Kopchovsky ist wenig bekannt, es fängt schon mit ihrem (unbekannten) Geburtsjahr an. 1870 oder 1871 soll es gewesen sein. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, wird sie als junge Frau mit Anfang zwanzig und Mutter von drei kleinen Kindern in die Weltgeschichte eingehen. Als Annie Londonderry dürfte sie den meisten Fahrradliebhabern ein Begriff sein. Trotz des Mangels an überliefertem Material, das Meiste dürften Zeitungsartikel mit fraglichem Wahrheitsgehalt sein - im Buch wird auch Annie ziemlich viele unwahre Geschichten erzählen, um mediale Aufmerksamkeit zu erhalten und damit einen gewissen Karl May, Lieblingsautor von Professor Dowe, in den Schatten stellen - hat Susanna Leonard ein eindrucksvolles Buch über die unerschrockene Pionierin geschrieben, welches sich grob vereinfacht in drei Teile gliedert. Die „Einführung“ bis zum Start der Tour umfasst rund 170 Seiten. Das Leben im jüdischen Ghetto von Boston war bedrückend, die beengten Wohnungszustände katastrophal und zu allem Überfluss ging die Frau in ihrer tradierten Rolle als Mutter und Hausfrau ohne eigene Rechte und Bedürfnisse unter. Von Selbstbestimmung keine Spur. Insoweit eine gute Studie zur Sozial- und Frauengeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Kurzweilige Unterhaltung mit kleinen Schwächen

Der zweite Teil beschreibt zunächst ausführlich ihre Radtour durch Amerika und anschließend Frankreich, wo sie triumphal empfangen wird. Im Schlussdrittel geht es dann nach Asien, wobei hier eine rührselige Liebesgeschichte in den Vordergrund drängt. Offenbar geht es bei historischen Romanen nicht anders. Statt sich auf das eigentliche Themenspektrum zu konzentrieren, dreht sich plötzlich alles um die Frage, ob die Liebenden zueinanderfinden. Hier hätte man sich stattdessen deutlich mehr Einblicke in ferne Länder gewünscht, in die Kultur und Traditionen von Japan und China zum Beispiel und wie diese mit einer allein reisenden Frau aus dem Westen umgehen. Doch nach dem zwischenzeitlichen Liebesgeplänkel geht alles plötzlich sehr schnell und oberflächlich. Da wären hundert oder mehr Seiten zusätzlich durchaus ein Gewinn gewesen.

Fazit

Ein weiterer Roman über eine starke Frau in einer männerdominierten Zeit. Durch die wirtschaftlich angespannte Lage in Amerika und den damit aufkommenden Antisemitismus musste Anna ihren Namen ändern. Londonderry, ein Mineralwasser und guter Werbeträger. Die Gleichberechtigung lässt hingegen weiter auf sich warten. Annie Londonderry bricht mit den Werten ihrer Zeit und zahlt dafür einen hohen Preis, entdeckt dafür aber zum ersten Mal echte Liebe und vor allem ungebundene Freiheit. Lesenswert.

Die Radfahrerin

Susanna Leonard, Lübbe

Die Radfahrerin

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