Ortolan: Das Blendwerk des Chevalier John Taylor

  • Osburg
  • Erschienen: August 2020
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Ortolan: Das Blendwerk des Chevalier John Taylor
Ortolan: Das Blendwerk des Chevalier John Taylor
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Carsten Jaehner
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Histo-Couch Rezension vonNov 2020

Ein Scharlatan mit Augenmaß

London, 1770. Nach langer Suche betritt der Kastrat Urlando das Haus des Chevaliers John Taylor. Es ist dunkel, und der Auftrag lautet, Taylor zu ermorden. Doch Taylor ist alt und krank, erblindet und bittet darum, seinem „neuen Sekretär“, wie er denkt, seine Lebensgeschichte zur Niederschrift diktieren zu dürfen. Da Urlando menschlich sein will, gestattet er diesen Wunsch und notiert das Diktat. Und wo Taylor schon einmal wissen will, mit wem er es zu tun hat, fügt Urlando gleich seine eigene Biografie mit hinzu.

Während Urlando das Pech hatte, als singendes Kind seiner Männlichkeit beraubt zu werden, um so eine Karriere als Kastrat zu starten, berichtet Taylor über seinen beruflichen Werdegang, wie er in Norwich als ältester seiner Geschwister aufwuchs, dem Nachbarn in der Apotheke aushalf und so sein Interesse für Medizin geweckt wurde. Besonders faszinierte ihn das Auge, und so spezialisierte er sich auf die Ophthalmologie, die Augenkunde. Er lernte bei berühmten Medizinern und wurde bald selber Experte als Augenstecher, der den blinden die Linsen wieder zurechtrückt und sie somit wieder sehend macht. Gemeinsam mit seinem Helfer, den er Homer nennt, reist er durch Europa, um dort auf Märkten und in Schlössern sein Werk zu verrichten. Sein bekanntester Patient ist in Leipzig der Komponist Johann Sebastian Bach, den er behandelt, dessen Leiden er aber nicht lindern kann. Ist Taylor doch ein Scharlatan? Und wer ist der Auftraggeber, der ihn ermorden lassen will?

Ein Panorama des 18. Jahrhunderts

Mit „Ortolan“ ist Andreas Hillger ein unterhaltsamer Roman gelungen, der den Leser in die Zeit der Aufklärung entführt und zwei Lebensgeschichten erzählt, die sich am Ende miteinander verknüpfen. „Das Blendwerk des Chevalier John Taylor“ ist der Untertitel des Romans und beschreibt die Karriere des genannten Taylors als Augenheiler, dem die Menschen zuströmten und vertrauten. Der Roman ist in drei Ebenen geschrieben: Zum einen die des Haupterzählers Urlando, der eigentlich Taylor töten soll, sich aber noch seine Lebensgeschichte anhört und diese aufschreibt. Die zweite Ebene ist die Lebensbeichte Taylors, und die dritte ist die Ebene dazwischen, also die Handlung zwischen den beiden Lebensgeschichten, wenn Urlando durchs Haus geht oder es an der Tür klopft. Alle drei Ebenen sind in der Ich-Perspektive beschrieben. Um die Erzähler auseinanderhalten zu können, findet man zu Beginn jeden Erzählteils entweder das Symbol eines Messerchens („Evviva il coltello – Es lebe das Messerchen“, ein Ausspruch über Kastraten, also in diesem Fall Urlando), das Symbol eines Auges für Taylors Erzählung, oder beide Symbole für die Zwischenteile.

Das Auge und das Messerchen

Beide Erzählebenen zusammen ergeben einen interessanten und launig geschriebenen Rundumschlag des kulturellen Lebens in Europa. Aus Urlandos Erzählung erfahren wir über Musik und das Leben eines Kastraten in verschiedenen Opernhäusern und Kirchen; hier treten auch berühmte Namen wie Mozart, Bach und Händel auf, wenngleich nicht immer persönlich, so aber doch als Einflussnehmer. Besonders Johann Christian Bach, jüngster Sohn und letztes von 20 Kindern von Johann Sebastian Bach, nimmt eine hervorgehobene Stellung im Leben Urlandos ein, der Taylor auch um Hilfe bei der Behandlung seines blinden Vaters bittet. Urlando berichtet auch von diversen amourösen Abenteuern, die er sich als Kastrat ja leisten kann und die ihn bei der Damenwelt besonders beliebt machen.

Taylor prahlt ebenfalls mit amourösen Abenteuern, die ihm aufgrund gelungener Operationen geschehen sind, doch dauerten diese niemals länger als sein Aufenthalt in einem Ort, wo er gerade wieder mit seiner umgebauten Kutsche unterwegs war. Der Leser lernt über den Beginn seiner Karriere letztlich ein Stück Medizingeschichte, darin enthalten sind viele Anekdoten und vielleicht auch die eine oder andere Flunkerei. Taylor trifft ebenfalls viele bekannte Persönlichkeiten, darunter seinen ersten Lehrer Cheselden, Georg Friedrich Händel, Voltaire und Friedrich den Großen, Erwähnung finden zudem viele Ereignisse der Zeit wie die Entstehung der berühmten Enzyklopädie Diderots (an der Taylor gerne beteiligt gewesen wäre) oder Bilder des Malers William Hogarth. Dadurch wird der Roman ein Zeuge seiner Zeit und lässt den Leser so manches historische Ereignis in einen anderen Zusammenhang einordnen. Dass Taylor einige Sachen übertreibt und damit angibt, merkt der Leser schnell und kann daher alle Aussagen richtig einordnen.

Schöne Ausstattung

Welche Rolle am Ende der Ortolan spielt, der in unseren Landen als „Gartenammer“ bekannt ist und der auf dem Titelbild des Buches zu sehen ist, soll hier nicht verraten werden. Immerhin ist das Buchcover durch dieses Aquarell schön gestaltet und sticht so aus dem herrschenden Einerlei wohltuend heraus, ein Merkmal, auf das man sich bei Büchern aus dem Osburg Verlag eigentlich immer verlassen kann. Den 227 Seiten des Romans ist noch ein nahezu 35seitiges „Panoptikum“ nachgestellt, wie es der Autor nennt. Hier sind alle auftauchenden und auch nur am Rande angedeuteten Figuren erwähnt, von der biblischen Figur über griechische Philosophen bis hin zu Casanova, Kastraten, Adeligen und Päpsten, jede mit ein paar Zeilen in das Jahrhundert eingeordnet und so für jeden als Ausgangspunkt für eigene Nachforschungen alphabetisch aufgelistet. Dem historischen John Taylor selbst ist am Ende ein eigenes „Paralipomenon“ gewidmet.

Fazit:

Andreas Hillgers erster historischer Roman ist eine lohnenswerte Lektüre quer durch das 18. Jahrhundert mit vielen Schauplätzen in ganz Europa. Der Autor entwirft ein buntes Bild der Gesellschaft, das er sprachlich mit Witz und doch zeitgemäß dem Leser vermittelt, was unterm Strich einen launigen, lesenswerten und mitreißenden Roman ergibt. Das einzige, was man dem Roman vorwerfen kann, ist, dass er leider zu kurz geraten ist. Gerne hätte man mehr davon gehabt, aber es gibt ja noch genügend unbeackerte Themen, die ihrer Entdeckung harren. Empfehlenswert.

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