Wenn es Nacht wird

  • Emons
  • Erschienen: Januar 2015
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  • Emons, 2015, Titel: 'Wenn es Nacht wird', Originalausgabe
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Carsten Jaehner
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Histo-Couch Rezension vonDez 2015

Ein faszinierender Einblick in die Geschichte der Tatortfotografie

Es ist kein Buch für jedermann. Es ist grausam, gruselig, abstoßend und doch zugleich faszinierend und man muss weiter blättern und die nächsten Seiten anschauen. Was der Emons-Verlag mit seinem Bildband Wenn es Nacht wird auf den Markt gebracht hat, ist ungewöhnlich und somit einer besonderen Erwähnung wert.

Herausgeber Wilfried Kaute hat im Archiv des New Yorker Department of Records gestöbert und ist auf Fotografien aus den Jahren 1910 bis 1920 gestoßen, die bereits als verschollen oder vernichtet galten. Diese Fotografien, die noch auf Glasplatten gedruckt sind, sind ausnahmslos schwarz-weiß und zeigen meist tote Menschen. Es sind Tatort-Fotografien, und den Anweisungen der New Yorker Polizei nach reine emotionslose Fotografien von Menschen, die Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Kaute hat zudem versucht, in den New Yorker Zeitungsarchiven die dazu gehörige Geschichte zu rekonstruieren, was nicht in allen Fällen gelungen ist, aber doch recht oft, so dass sich die Abläufe der Verbrechen oft nachvollziehen lassen.

Fotografien auf Glasplatten

Allerdings zeigen die Fotografien dieses Bandes nicht nur tote Männer und Frauen, sondern auch Kinder, deren Gesichter aber aus ästhetischen Gründen vom Herausgeber geschwärzt wurden. Überhaupt ergibt sich die Frage der Persönlichkeitsrechte, die aber bereits nach dem Gesetz abgelaufen ist und so dürfen die Bilder veröffentliche werden.

Neben den Personenbildern werden auch immer wieder normale Fotografien New Yorks eingestreut, vornehmlich aus den Vierteln, wo die Verbrechen begangen wurden, aber auch Bilder, die einfach nur Straßen oder Häuser zeigen und so die Entwicklung der Stadt dokumentieren. Es ist erstaunlich, wie gut erhalten die Glasplatten mit den Fotografien sind, und wie gestochen scharf, so dass man auf vielen Panoramabildern selbst kleinste Details erkennt.

Hohe Bildqualität

Und  bei dem Opfern der Verbrechen sieht man daher auch kleinste Details wie Einstichwunden, Blutflecken, Schusswunden etc., und genau darum geht es auch in Tatortfotografien. Die Leichen wurden so abgebildet, wie sie gefunden wurden, und das war in den Anfängen der Tatortfotografie, wie sie hier dokumentiert ist, eine Sensation. Manch ein Tatort wurde auch aus mehreren Blickwinkeln fotografiert, man sieht teilweise die Beine des Stativs des Fotografen, die über den Toten drapiert sind.

Doch nicht nur Bilder von Toten, sondern auch Fahndungsfotos und Vermisstenfotos sind in dem Fotoband abgebildet, eingestreut auch immer wieder Werbeanzeigen aus der Zeit für Waffen, Hotelbesuche oder Haustürsicherheitssysteme, die das Verständnis der Zeit für Verbrechen aufzeigen. Neben Polizeiberichten über die Todesfälle sind auch Statistiken mit eingefügt.

 

"Beinahe 11.000 Polizisten, welche die Steuerzahler der Stadt etwa 34 Dollar pro Minute kosten, gelang es im vergangenen Jahr, die Gesetzlosigkeit in Schach zu halten, wozu es nötig war, im Schnitt einen von 30 New Yorker Bürgen festzunehmen. Die Gesamtzahl der Festnahmen und Vorladungen im Jahre 1914 belief sich auf 190.184 eine Steigerung von 8.000 gegenüber 1913. (&) Die Steuerzahler tragen mit fast 18 Millionen Dollar jährlich ihren Teil (zur Verbrechensbekämpfung) bei. Wir hoffen, dass sich die Situation in der Stadt bessert. Wir haben das Recht, künftig eine höhere Sicherheit zu fordern." (The Evening World vom 1. Mai 1919)

 

Jedem Foto ist wissenschaftlich genau beigefügt, welches Format die Glasplatte hat, was fotografiert wurde, das Datum, soweit rekonstruierbar, und ein Titel für die Glasplatte. Man sieht dem Buch an, wie akribisch der Herausgeber zu Werke gegangen ist, wie viel Zeit er in Archiven verbracht haben muss, wie sorgfältig er Fotografien und Polizeiberichte abgeglichen hat. Dies alles hat er zu einem stimmigen Fotoband zusammengestellt, der in seiner Form sicherlich einzigartig sein dürfte.

Neben einem Vorwort des Herausgebers Wilfried Kaute gibt es ein zusätzliches  Vorwort von Joe Bausch, Schauspieler und im wahren Leben Gefängnisarzt in einer Justizvollzugsanstalt und somit vom Fach und mehr als geeignet, die vorliegende Sammlung zu beurteilen.

 

"Fotografien von Tatorten verraten oft mehr als Protokolle, Zeugenaussagen oder Zeitungsartikel. Sie sind beredte (Zeit-)Zeugen, die uns aus scheinbar emotionslosem Blickwinkel die Geschichte eines Verbrechens erzählen ohne Worte und damit der Wahrheit häufig viel näher als weitschweifige Berichte und Schilderungen." (Joe Bausch)

 

Wer sich diesen Bildband anschafft oder verschenkt, wird ein einschneidendes Erlebnis haben. Der Band ist verwirrend, eklig, morbide, unangenehm, voyeuristisch, gruselig und doch faszinierend zugleich. Jeder Leser wird sich dabei ertappen, von den Fotografien abgestoßen und gleichzeitig angezogen zu sein, der Drang, weiterzublättern wird stärker sein als der, das Buch wegzulegen. Woran das liegt? Hier wird die Realität abgebildet, wie sie ist, ungeschönt und nicht durch Worte eines Autors beschrieben, sondern einfach der fotografische Fakt für sich. Die Geschichten drum herum erklären die Fotos, die ja das Ergebnis einer vorangegangenen Tat sind. Faszinierend ist vor allem auch die Qualität der über 100 Jahre alten Fotos, und die Tatsache, dass sie schwarz-weiß sind. Die alte Welt in Farbe hätte nicht die gleiche Wirkung wie in dieser Gestalt.

Als die Welt noch schwarz-weiss war

Der Bildband ist nicht unbedingt ein geeignetes Weihnachtsgeschenk für die Oma oder den 16jährigen Bruder und bedarf bei dem einen oder anderen sicherlich einer Erklärung, warum er oder sie gerade mit diesem Präsent bedacht wurde. Es ist ein Stück New Yorker Stadtgeschichte, ein Stück Fotografiegeschichte, Kriminalgeschichte, wie man es sonst nur aus Romanen kennt, nur in real. Faszinierend und abstoßend zugleich. Es ist ein besonderes Buch und bestimmt nicht für jeden geeignet, egal ob Krimifan oder nicht. Man sollte gut nachdenken, ob und wem man dieses Buch in die Hand gibt. Ein gewisser Voyeurismus wird sich nicht leugnen lassen können, dazu ist die Zusammenstellung zu besonders.  Aber fernab davon werden hier Geschichte und Kriminalität durch Tote lebendig.

Wenn es Nacht wird

Wilfried Kaute, Emons

Wenn es Nacht wird

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