Der begrabene Riese

  • Blessing
  • Erschienen: Januar 2015
  • 1
  • Blessing, 2015, Titel: 'The Buried Giant', Originalausgabe
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Almut Oetjen
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Histo-Couch Rezension vonAug 2015

Eine Parabel auf den Krieg

Britannien im 5. Jahrhundert: Seit dem Sieg von König Artus und seinen Britanniern über die Angelsachsen herrscht Frieden. Das Land ist verwüstet, die Überreste der früheren römischen Besatzungsmacht sind verfallen, es herrscht ein eisiger Nebel. Die Menschen leben in einfachsten Verhältnissen und leiden an einer mysteriösen Amnesie, vergessen selbst jüngere Erinnerungen. Doch eine Veränderung macht sich bemerkbar.

Das ältere Paar Axl und Beatrice wohnt in einem kleinen Dorf. Die beiden lieben sich noch immer. Sie hatten einen Sohn, an den sie sich nun wieder zu erinnern beginnen. Warum er von ihnen ging und wo er ist, das wissen sie nicht, nur dass er in einem anderen Dorf auf sie wartet. Da die Dorfbewohner sie als Belastung betrachten und schlecht behandeln, verlassen sie ihr Zuhause und machen sich auf die Suche nach ihrem Sohn.

Unterwegs begegnen sie dem zwölfjährigen Edwin, der aus seinem sächsischen Dorf von Menschenfressern entführt und von einem Drachenkind gebissen worden war. Da er bei den  abergläubischen Sachsen nicht sicher ist, nehmen sie ihn mit. Edwins Retter, der junge sächsische Krieger Wistan, begleitet sie. Er kommt aus dem Osten und soll im Auftrag seines Königs angeblich die Lage der Sachsen unter dem britannischen Herrscher Lord Brennus erkunden. Das Quartett trifft auf den alten Sir Gawain, einen Ritter der Tafelrunde und Neffen des längst verstorbenen König Artus. Auch Gawain schließt sich ihnen an, um einen alten Auftrag von König Artus zu erfüllen. Angeblich soll er die Drachin Querig erschlagen. 

Axl traut Gawain nicht über den Weg. Er hat das vage Gefühl, dass er früher selbst ein Krieger war und sie eine gemeinsame Vergangenheit teilen.

Der eisige Atem der Vergangenheit

Der begrabene Riese ist Ishiguros erster Roman seit zehn Jahren. Nach Science Fiction und Detektivroman wendet er sich dem Genre des Historischen Romans zu. Die Handlung spielt nach dem Abzug der Römer und zur Zeit der Völkerwanderung, als sich die Westgermanen auf der englischen Insel niederließen und die einheimischen Kelten in die westlichen und nördlichen Randgebiete abdrängten. In dieser Zeit ist die Artus-Legende verortet, die auf eher vagen Erwähnungen eines gleichnamigen militärischen Führers fußt, der heldenhaft gegen die Angelsachsen gekämpft haben soll. Bei Ishiguro ist Artus bereits tot, sein Neffe Gawain lebt jedoch noch, zieht als alter Ritter in verrosteter Rüstung mit seinem klapprigen Schlachtross Horaz wie Don Quixote durchs Land.

Es gibt diverse Bezüge auf die Artus-Legende wie Layamons Brut, die Romanze Sir Gawain and the Green Knight oder auch Excalibur. In dem Film von John Boorman liegt der Atem des Drachen wie ein Nebel über dem Land, während unter dem Schild des Nebels das Böse in Gestalt des Thronusurpators Mordred heranwächst. Angereichert ist Ishiguros Geschichte um Fantasy-Tropen, wie Kobolde, Menschenfresser, Riesen, einem Untier, das unter einer ehemaligen Burg haust, und einer Drachin, die nicht nur im Roman präsent, sondern Kern des Plots ist. Ishiguro baut jedoch keine Fantasywelt auf, die Handlung ist in der Realität Altenglands verortet. Es gibt Hinweise auf das Eisenzeitalter und römische Straßen, die nach dem Abzug der Römer zerstört oder überwuchert sind. Mitunter könnte man meinen, die übernatürlichen Gestalten entsprängen der Phantasie und dem Aberglauben der Menschen. So könnte ein im Fluss ertrunkener Riese durchaus ein umgestürzter Baum sein.

Der allwissende Erzähler gibt sich objektiv mit scheinbar autoritativen Hinweisen. Er berichtet von den Ereignissen, als liege die Handlung schon Epochen zurück, spielt dann aber selbst eine wichtige Rolle. Erst im letzten Kapitel wird seine Identität enthüllt. Irgendwie spielen bis auf die Hauptfiguren Axl und Beatrice alle ein doppeltes Spiel, ob Gawain, Wistan oder die Mönche in der Klosterburg auf dem Berg. Axl und Beatrice wissen nicht, wem sie trauen können, sie selbst eingeschlossen.

Der Roman kreist um den Themenkomplex Erinnerung und Verlust, es geht um Unterdrückung der Wahrheit und der Vergangenheit, um individuelle und gesellschaftliche Amnesie. Axl und Beatrice merken, wie Erinnerungsfetzen zurückkehren, die sie anfangs noch verwirren und ängstigen. Sie wissen nicht, was sie erwartet, wenn sie ihr Gedächtnis zurückgewinnen und sich die Geschichte ihres gemeinsamen Lebens offenbart. Sie wissen nur von einer alten Frau und einem Fährmann, dass sie sich an ihr Leben erinnern müssen, damit sie zusammenbleiben können. Sie nehmen sich vor, auch dann, wenn es schlechte Erinnerungen sind, vereint zu bleiben, weil sie sich lieben.

Mit den individuellen Erinnerungen kehrt auch das historische Gedächtnis allmählich zurück. Ishiguro verbindet beide Gedächtnisebenen in der Figur des alten Axl, der nicht immer nur Familienvater und Bauer war, sondern zu Artus Zeiten eine wichtige Rolle in der Politik spielte. Er hatte seinerzeit Artus gewarnt, dass dessen Methoden den Kreislauf des Hasses  nicht durchbrechen, sondern ihn aus Eisen schmieden. Was geschieht, wenn er Recht behält und der Riese der Erinnerung ausgegraben wird und mit ihm die alten Ressentiments, wenn die Vergangenheit nicht überwunden ist, sondern nur Vorbote neuer Grausamkeiten?

Auch wenn man mangels schriftlicher Zeugnisse wenig über diese Epoche weiß, die Antwort ist bekannt. Die aktuelle Relevanz ist offensichtlich. Ishiguro hat eine Parabel geschrieben, die auch zu irgendeiner beliebigen anderen Zeit spielen könnte, beispielsweise Anfang der  1990er im Jugoslawienkonflikt oder heute im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Es geht ihm darum, Strukturen offenzulegen.

Man fragt sich, ob Erinnern positiv oder negativ ist. Beides, scheint die Antwort zu lauten. Das Vergessen löscht die Identität von Individuen und Ländern, macht manipulierbar. Aus Erinnerungen können neue Krieg entstehen. Aber Amnesie kann Kriege nicht verhindern.

Der Roman verfolgt eine gute Absicht, thematisiert interessante Überlegungen. Die Umsetzung ist misslungen. Vor allem das erste Viertel zieht sich mit Banalitäten dahin, denn der Erzähler bleibt nah an Figuren, die keine Geschichten, keine Erinnerungen, kaum Ideen haben. Das ist eine zähe Angelegenheit, die sich ein wenig bessert, als die Protagonisten die ersten Abenteuer erlebt, anderen storyrelevanten Figuren begegnet, die Erzählperspektiven wechseln. Aber auch da ist die Geschichte ein dramaturgisches Desaster, ohne Spannung, erzählt in einem erfundenen alten Deutsch (respektive altem Englisch), in schlichtem Stil, den man euphemistisch auch als unprätentiös bezeichnen könnte, mit langweiligen, flachen Dialogen. Irritierend ist auch, dass Axl seine Frau permanent mit Prinzessin anspricht.

Der Roman selbst ist ein merkwürdiges Durcheinander, aber die Geschichte über die Liebe eines älteren Paares ist so bewegend wie traurig. Auf ihrer Reise begegnen Axl und Beatrice einem Fährmann, der Menschen auf die Insel des Todes übersetzt. Nur wenn zwei Menschen ihn in einem Test überzeugen können, dass zwischen ihnen ein ganz tiefes Band besteht, wozu sie sich an ihre gemeinsame Geschichte erinnern müssen, erlaubt er ihnen eine gemeinsame Reise. Von da an fürchten Axl und Beatrice, dass sie den Test nicht bestehen und für immer getrennt werden. Sie müssen sich erinnern, denn die Amnesie hat ihnen die gemeinsamen glücklichen Momente und damit das Wertvollste geraubt.

Der begrabene Riese ist ein Hybrid aus historischem Roman und Fantasy, der kurz nach der Zeit von König Artus spielt und wichtige Themen abhandelt, aber uninspiriert und erzähltechnisch nicht überzeugend ist.  

Der begrabene Riese

Kazuo Ishiguro, Blessing

Der begrabene Riese

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