Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry

  • Nagel & Kimche
  • Erschienen: Januar 2000
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Mitten in der brodelnden Münchner Literatenszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts sitzt eine junge Frau, die meistens still beobachtet. Sie heißt Regina Ullmann, ist dem anarchistischen Psychiater Otto Gross verfallen und wird eine der erstaunlichsten Schriftstellerinnen des deutschsprachigen Raums, von Rainer Maria Rilke gefördert, von Hermann Hesse und Thomas Mann verehrt. Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und einer tragischen Liebe.

 

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Jörg Kijanski
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Histo-Couch Rezension vonSep 2013

Viele Künstler und Intellektuelle verdanken ihm ihr (Über)leben

Am 14. Juni 1940 rücken die Nazis in Paris ein. General Pétain unterzeichnet den Friedensvertrag mit dem berüchtigten Artikel 19, wonach auf Verlangen der Besetzer Menschen an die deutsche Regierung auszuliefern sind. Zehntausende wähnten sich in Frankreich zuvor in Sicherheit, nun schweben sie in Lebensgefahr. Auf Vorschlag von Thomas Mann findet daraufhin im New Yorker Hotel Commodore am 25. Juni eine Versammlung statt. Ziel der Sitzung ist, verfolgten Künstlern und Intellektuellen die Flucht nach Amerika zu ermöglichen. Es gründet sich das Emergency Rescue Committee (ERC), das einen Freiwilligen sucht, der nach Marseille in die Höhle des Löwen geht, um dort den Betroffenen zu helfen.

Man einigt sich auf Varian Fry, der sich mit 3.000 Dollar und einer Liste mit 200 Namen von zu rettenden Personen auf den Weg macht. Im Hotel Splendile richtet er sich ein Büro ein und nimmt mit einigen Helfern seine Arbeit auf. Doch wo halten sich Persönlichkeiten wie Lion Feuchtwanger, Max Werfel, Max Ernst oder der Kabarettist Walter Mehring versteckt? Nicht jeder will sich zudem helfen lassen, denn der Hafen vor Marseille ist vermint, die großen Schifffahrtsgesellschaften haben ihren Betrieb längst eingestellt und die Flucht über Spanien und Portugal in das rettende Lissabon ist ebenso beschwerlich wie gefährlich. Aber auch aus den eigenen Reihen erfährt Fry zunehmend Gegenwind, denn der amerikanische Generalkonsul in Marseille erweist sich als Gegner seiner Bemühungen, vermutet dieser offenbar, Fry würde sich für die falschen Personen einsetzen…

 

"Wenn ich diese hochgebogenen Mützen in Form eines Entenhintern, mit Hakenkreuz und Adler nur schon sehe, packt mich ein metaphysisches Grauen."

 

Ein literarisches Denkmal für einen (fast) vergessenen Helden

Nicht viele Amerikaner wurden im letzten Jahrhundert in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt. 1996 war Varian Fry der Erste! Geschätzte zweitausend Menschen soll Fry zwischen 1940 und 1941 gerettet haben. Die Liste bekannter Persönlichkeiten ist lang. Den oben bereits genannten könnte man Hannah Arendt, Marc Chagall, Heinrich und Golo Mann hinzufügen; allein es wäre eine willkürliche Auswahl. Doch wäre noch zu erwähnen, dass Fry auch der Familie Hessel und deren Sohn Stéphane behilflich war; jenem Stéphane Hessel, der 2010 mit seinem Buch "Empört Euch!" im Alter von 93 Jahren einen Bestseller veröffentlichte.

 

"Bitte, Golo, erzählen Sie Varian die Geschichte vom spanischen Zoll!"

"Man hat am spanischen Grenzübergang alle Pässe oberflächlich angeschaut, nur an meinem bleibt der Beamte hängen. Er hat sogar mein amerikanisches Affidavit studiert. "Da steht, dass Sie Ihren Vater in Princeton besuchen. Sind Sie der Sohn von Thomas Mann?" Ich nicke. Und denke an die Gestapo. Mein Schicksal ist wohl besiegelt. Schließlich will ich die Sache aber heldenhaft beenden und frage zurück: "Missfällt Ihnen das?" – "Oh im Gegenteil. Es ist mir eine Ehre, den Sohn eines so bedeutenden Mannes kennenzulernen." Sagt’s, schüttelt mir die Hand, und entlässt uns alle mit einem Lächeln."

 

Eveline Hasler beginnt ihren Roman 1940 mit der Gründung des ERC. Dann verschwindet von Seite 14 bis 55 der Protagonist aus der Handlung, stattdessen werden die Schicksale einiger Menschen auf ihrer Flucht vor den Nazis aufgezeigt, wie beispielsweise die des 15-jährigen Justus Rosenberg, der später für Fry als Laufbursche arbeiten wird.

Eindringlich werden die Nöte und Ängste, nicht nur der Künstler, aufgezeigt. Der Schwerpunkt liegt gleichwohl in deren Milieu und so erfährt man immer wieder, wer gerade an welchem Werk arbeitet, während in den Lichtspielhäusern jenseits des Atlantik "Der große Diktator" mit Charlie Chaplin große Erfolge feiert. Ein Film, der im Reich seit Jahren verboten ist.

Mit dem letzten Schiff besteht im Wesentlichen aus vier Handlungspfeilern. Die Arbeit von Varian Fry und seinen Helfern; Einblicke in das Leben und Werk einiger Intellektueller, deren Wege sich immer wieder kreuzen; die Situation in verschiedenen Einrichtungen wie der Kinderkolonie La Hille oder dem Barackenlager Gurs sowie aus ergänzenden, allgemeinen Einblicken in die politische Gesamtlage.

 

"Er ist nicht mein Sekretär, und Sie haben keine Beweise, dass ich damit zu tun habe", antwortete Fry.

"Im neuen Frankreich benötigen wir keine Beweise", antwortet der Polizeichef.

Und Fry entgegnete: "Da haben wir wohl unterschiedliche Vorstellungen über Menschenrechte."

Du Porzic nickte: "In den Vereinigten Staaten hat man wohl noch eine veraltete Idee von Menschenrechten. Doch die Gesellschaft ist wichtiger als das Individuum."

 

Gleichwohl die Situation zunehmend brenzliger, die Verfolgung durch die Nazis immer brutaler wird, bewegt sich die Autorin Eveline Hasler konstant auf sprachlich hohem Niveau. Dabei schildert sie einige Szenen durchaus in ihrer Brutalität, schafft es aber immer wieder, selbst aus vermeidlich kleinen Ereignissen eine Quelle der Hoffnung und Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit zu bilden.

Ein kurzes, einprägendes Leseerlebnis mit langem Nachhall sowie eine großartige Würdigung eines Helden, der im Schatten von Oskar Schindler in Vergessenheit geriet!

Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry

Eveline Hasler, Nagel & Kimche

Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry

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