Ostrakon. Die Scherbenhüterin

  • Acabus
  • Erschienen: Januar 2013
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  • Acabus, 2013, Titel: 'Ostrakon. Die Scherbenhüterin', Originalausgabe
Ostrakon. Die Scherbenhüterin
Ostrakon. Die Scherbenhüterin
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Annette Gloser
921001

Histo-Couch Rezension vonAug 2013

Die Scherben am Grund des Kinnereth

Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Behütet und geliebt wächst Daya im Haus ihrer Mutter heran. Eigentlich gehört das Haus Tante Adah, aber die beiden Frauen und das Kind bilden eine enge Gemeinschaft. Adah ist Schreiberin und Dayas Mutter Yesha ist ebenfalls eine Frau des Wortes. Einst zog sie mit Jeschua von Nazareth durch das Land. Nun, lange nach seinem Tod, sieht sie es als ihre große Aufgabe an, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und allen Anhängern des Nazareners von ihm zu berichten. Die beiden Frauen und das Kind führen ein Leben in Armut, Adaha erblindet langsam und nur der Salbenhändler Nathan unterstützt die Frauen gelegentlich. Aber Daya liebt ihre Mutter und fühlt sich bei ihr geborgen. Ihren Vater kennt sie nicht, die Mutter spricht auch nicht über ihn. Doch Daya ist fest davon überzeugt, daß es jener Jeschua sein muß, an den die Mutter so oft denkt und über den Yesha immer nur Gutes berichtet.

Eines Tages jedoch bricht im Haus ein Feuer aus. Bei dem Versuch, ihre Aufzeichnungen zu retten, stirbt Yesha. Verzweifelt schenkt Daya der toten Mutter ihre Stimme, damit sie wenigstens im Himmel gemeinsam singen und lachen können. Die von Yesha geretteten Schriftrollen werden von Adah und einem Anhänger Jeschuas versteckt, dann machen sich die Frau und das Kind auf den Weg nach Kfar Naum. Von dort kam Yesha einst und Adah hofft darauf, daß Yeshas Familie sich um das Kind kümmern wird.

Auf dem Weg in den kleinen Ort am Yam Kinnereth begegnen sich Daya und Mattaji zum ersten Mal. Ein kleines Mädchen, stumm nach dem erlebten Schrecken, und ein Junge an der Schwelle zum Erwachsenwerden, der davon träumt, ein Freiheitskämpfer zu werden wie sein Vater. Nur kurz ist diese Begegnung, aber die beiden werden sich daran erinnern, Jahre später.

In Kfar Naum wird Daya von der Familie aufgenommen, die einst auch ihre Mutter groß zog. Sie lernt, was ein junges jüdisches Mädchen wissen und können muß. Aber sie verbirgt sorgfältig, daß sie schreiben kann, denn es ziemt sich für eine Frau nicht, die Schriftzeichen zu beherrschen. Aber in ihren wenigen freien Stunden sitzt Daya oft am Ufer des großen Sees und ritzt Namen in Tonscherben: Yesha, Adah, Nathan, Mattaji und auch Jeschua. Ostrakon nennt man so eine mit einem Namen beschriftete Tonscherbe. Dann wirft sie die Scherben in den See. Hunderte von Tonscherben liegen mittlerweile dort und Daya weiß nicht mehr, was sie eigentlich mit diesen Namen verbunden hat. Nur eins ist ihr klar: Wenn sie die Bedeutung dieser Namen wieder findet, dann findet sie auch ihre Vergangenheit wieder. Als die Familie beschließt, Daya mit einem alten Mann zu verheiraten, entschließt sich das Mädchen zur Flucht. Mit einem Fischerboot gelangt sie nach Migdal. Dort trifft sie Nathan wieder, der sie in sein Haus aufnimmt. Und sie trifft auch Mattaji, der mittlerweile ein Zelot geworden ist, ein jüdischer Freiheitskämpfer.

Krieg und Frieden

Michaela Abresch führt ihre Leser in eine unruhevolle Zeit. Es ist das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung, Palästina ist von den Römern besetzt. Das einstige Land der monotheistischen Juden ist zu einem Schmelztiegel der Völker geworden, in dem sich immer mehr Fremde ansiedeln. Die Steuereintreiber Roms pressen aus der Bevölkerung das Letzte heraus und sind dementsprechend verhasst. Die ersten Gruppen jener seltsamen Sekte, die den Lehren des Jesus aus Nazareth anhängen, bilden sich. Und es gibt Männer, die als Anhänger des einen und wahren Gottes einen jahrzehntelangen Guerillakrieg gegen die Besatzer führen. Man nennt sie Zeloten, Eiferer, und sie sind eingeschworen darauf, für ihren Gott zu kämpfen und zu sterben.

Mitten hinein in diesen brodelnden Kessel der Gegensätze stellt Michaela Abresch ihre Protagonisten. Dabei wird schnell deutlich, daß es hier vor allem um das Mädchen Daya und den jungen Zeloten Mattaji geht. Die Autorin bleibt immer ganz dicht bei ihnen. Dabei eröffnen sich Perspektiven, die dem Leser einen ganz besonderen Blick auf das Land und die Zeit ermöglichen. Vor allem Daya wird dabei viel Aufmerksamkeit gewidmet. Michaela Abresch gelingt hier eine sensible Charakterstudie. Heutzutage würde man Dayas Verhalten vermutlich als "Posttraumatisches Streßsyndrom" diagnostizieren, sie zum Psychologen schicken und darauf hoffen, daß sich alles schon wieder irgendwie richten wird. Das verstummte Mädchen jedoch hat eine schwere Odyssee vor sich. Es muß ihr gelingen, ihre Vergangenheit zurück zu bekommen. Auf diesem Weg haben auch die Leser die Möglichkeit, tiefen Einblick zu nehmen in das alltägliche Leben am Kinnereth vor zweitausend Jahren, in das Funktionieren einer strikt patriarchalischen Gesellschaft. Hier sind Michaela Abresch sehr detailfreudige und eindrucksvolle Szenen gelungen.

Auch das Leben Mattajis wird sehr eng begleitet, auch sein Lebensweg recht genau geschildert. Er ist die andere Seite der Medaille, der Mann, der Kämpfer, der seinen Weg schon gefunden zu haben glaubt. Die Autorin verwebt beide Lebenswege, lässt sie sich trennen und führt sie wieder zueinander. Letztendlich entsteht daraus ein wunderbares Panorama, das einen großen Blick auf ein wichtiges Stück der  Geschichte ermöglicht. Der wackelige Frieden, der sich letztendlich als große Lüge entpuppt, der verzweifelte Krieg, der nicht gewonnen werden kann. Und die Menschen, die mit beidem leben müssen.

Nicht einfach schwarz- weiß

Michaela Abresch erzählt ihre Geschichte nicht gradlinig. Es wechseln sich Kapitel über das Leben Dayas mit den Kapiteln über Mattaji ab. Außerdem sind immer wieder die Erinnerungen Yeshas eingefügt. Da diese Erinnerungen kursiv gedruckt sind, sind sie für den Leser gut zu erkennen und einzuordnen. Die Sprache ist nicht abgehoben, auch nicht bemüht altertümlich. Allerdings verwendet die Autorin auch keine Modernismen, was sich sehr wohltuend auf den Lesefluß auswirkt. Es gibt dem Leser die Chance, sich ganz und gar in die erzählte Geschichte hinein ziehen zu lassen und "abzutauchen". Da der Spannungsbogen auch schnell aufgebaut und bis zu Schluß gehalten wird, kann dieses Abtauchen ein Vergnügen sein. Es gibt keine Längen zu überbrücken, allerdings erwartet die Autorin von ihren Lesern auch, daß sie ein paar historische Grundkenntnisse mitbringen. Wichtige Informationen zu historischen Fakten werden zwar im Romantext vermittelt, aber ausführliche Erläuterungen sind nicht eingebaut. Das ist ausgesprochen angenehm, denn man fühlt sich als Leser ernst genommen.

Der Autorin sind mit ihren Protagonisten Charaktere gelungen, die vielschichtig und authentisch sind. Es gibt nicht die schöne, einfache Unterscheidung in schwarz und weiß. Keiner der Protagonisten hat den Stempel des Unsympathen schlechthin abbekommen, auch wenn nicht jeder von ihnen den Publikumspreis gewinnen wird. Der Leser kann die Beweggründe der handelnden Personen auch dann nachvollziehen, wenn dieser Protagonist etwas "Böses" oder Unpopuläres tut. Dabei erspart die Autorin ihren Lesern ausgedehnte Psychoanalysen. Sie stellt die Menschen in ihre Geschichte, in ihre Zeit und lässt sie agieren. Dabei ist ein plastisches, eindrucksvolles Mosaik heraus gekommen. Dazu kommen Daya und Mattaji als liebenswerte Hauptpersonen, denen man gerne durch ihre Geschichte folgt. Vor allem zum Ende des Romans hin, wenn alles auf das dramatische Ende der Zeloten in Mezada hin läuft, kann man mitbangen und sich tief in diese beiden Protagonisten hinein fühlen.

Spannung und Gefühl

Ostrakon - Die Scherbenhüterin ist ein wundervolles, spannendes Buch, das man nur möglichst vielen Lesern empfehlen kann. Die Nachbemerkungen der Autorin sind durchaus lesenswert und eine kleine, aber feine Karte am Anfang des Buches erleichtert den Lesern die Orientierung im antiken Galil. Der Roman vermittelt neben tiefen Gefühlen auch Spannung und viele interessante Fakten. Zwar sind die handelnden Personen zum großen Teil fiktiv, jedoch bleibt dem Leser am Ende jener Satz, der einen guten historischen Roman krönt: So könnte es gewesen sein!

Ostrakon. Die Scherbenhüterin

Michaela Abresch, Acabus

Ostrakon. Die Scherbenhüterin

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