Der Totenleser

  • Rütten und Loening
  • Erschienen: Januar 2012
  • 4
  • Rütten und Loening, 2011, Titel: 'El lector de cadáveres', Originalausgabe
Der Totenleser
Der Totenleser
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Daniela Loisl
921001

Histo-Couch Rezension vonNov 2012

Ein historischer Krimi der besonderen Güte

Kurzgefasst:

China, um das Jahr 1200: Mitten in den turbulenten Zeiten der Song-Dynastie arbeitet sich der mittellose und verwaiste Song Ci mit Fleiß und Entschlossenheit vom Leichenbestatter zum besten Studenten der angesehenen Ming-Akademie hoch. Seine Gabe, die dunklen Geheimnisse aufzudecken, die sich hinter den Verletzungen der Toten verbergen, erregt Aufsehen - aber auch Missgunst. Ci wird denunziert und wegen seiner revolutionären Obduktionsmethoden von der Justiz verfolgt. Doch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten sprechen sich herum, bis sie schließlich auch dem Kaiser Song Nin Zong zu Ohren kommen. Er lässt den "Totenleser" zu sich rufen und bittet ihn, eine Reihe grausamer Morde am Hof zu untersuchen, die seine Dynastie zu vernichten drohen. Song Ci willigt ein - nicht ahnend, zwischen welche Fronten er schon bald gerät, gegen welche Mauern aus Schweigen er stoßen und welchen Intrigen er begegnen wird. Als er sich leidenschaftlich in die kaiserliche Konkubine Blaue Iris verliebt, wird die Luft im Palast dünn für ihn. Wem kann er vertrauen, und wer wird ihn verraten?

 

China um 1200: Song Ci wächst mit seinem älteren Bruder und seiner jüngeren Schwester in einer - in Europa würde man sagen "gut bürgerlichen" - Familie auf. Er liebt das Lernen und möchte unbedingt zurück in die Stadt Lin`an, um sich weiter unterrichten zu lassen. Darüber gerät er mit seinem Vater in Streit und bevor er noch einmal mit ihm sprechen kann, kommt es zu einem dramatischen Brand und Song Ci verliert beinah seine ganze Familie. Nur Mei Mei, seine kleine, kränkelnde Schwester, bleibt ihm und er muss nun versuchen, sie beide zu ernähren. Letztendlich landet er wieder in Lin`an und bekommt auch die Chance, seine Studien wieder aufzunehmen. Aber durch Neid und Missgunst kommt er immer wieder in schwierige Situationen und es ist ein langer Weg, bis er zum "Totenleser" wird.

Asiatisches Flair

Mit einem nicht alltäglichen Schauplatz wartet der Autor Antonio Garrido auf und so mancher Leser wird sich vielleicht mit einer gewissen Skepsis ans Lesen machen, ist uns das ferne China kulturell doch mehr als fremd. Die Bedenken sind jedenfalls unbegründet! Garrido gelingt es schon mit wenigen Sätzen den Leser zu erreichen und in den Bann zu ziehen. Man steht nach wenigen Zeilen in der fremden, asiatischen Welt und durch das gelungene Veranschaulichen der exotischen Welt findet man sich aber dennoch schnell zurecht. Mit viel Fingerspitzengefühl dirigiert der Autor den Leser durch seine Geschichte, sodass einem auch das nicht vertraute Land schnell zugänglich wird und man sich in der fremden Kultur gut zurecht findet. Das "Neue" bzw. "Ungewohnte" findet so beim Leser schnell Anklang und man genießt förmlich, einmal in eine gänzlich andere Welt eintauchen zu können.

Undurchsichtige Figuren

Schon auf der ersten Seite begegnet man dem ungleichen Brüderpaar Ci und Lu. Während Ci der Intelligentere und Gelehrige ist, nutzt Lu das Vorrecht seiner Position als älterer Bruder und malträtiert den jüngeren wo er nur kann. Als der erste Mord passiert, scheint der Täter schnell gefunden zu sein - aber alles ist anders als es scheint.

Zu Song Ci als Protagonisten, der alles andere als eine blasse Figur ist (er "leidet" auch an einer sehr seltenen Erkrankung - er kann keinen Schmerz empfinden), begegnet man einer sehr großen Zahl an Figuren. So finden sich hier Feng, ein Richter und Mentor Cis, Xu, ein Wahrsager, Lügner und Betrüger, auf den Ci aber angewesen ist, Ming, ein Richter und der Mäzen Cis, der ihn unterstützt wo er kann, Grauer Fuchs, ein Student der Ci das Leben schwer macht oder auch Blaue Iris, eine wunderschöne blinde Frau, die aber mit allen Wassern gewaschen scheint und der Ci regelrecht verfällt. Gemeinsam mit Ci begegnet der Leser vielen Darstellern, aber einschätzen lassen sie sich alle sehr schwer. Dies ist mit ein Grund, weshalb der Leser keiner Figur mehr über den Weg trauen würde und man den Protagonisten, ob seiner manchmal durchblitzenden Naivität, am liebsten den Weg weisen würde. Hier scheint der Autor aber auch die Mentalität der Asiaten getroffen zu haben, denn manche Reaktionen und manches Handeln liegen rein am falschen Stolz, den ein Europäer in derselben Situation nie an den Tag legen würde. So tragen letztendlich auch die Figuren zum besonderen Flair des Buches bei.

Einige Überraschungen

Jeder Leser macht sich zu der Geschichte eines Buches sein persönliches Bild, aber bei diesem Buch muss man seine Gedanken über den Fortlauf der Erzählung so einige Male revidieren, sodass man Schlussfolgerungen letztlich bleiben lässt und mit Spannung auf den weiteren Verlauf der Geschichte wartet. Zu guter Letzt löst sich alles sehr schlüssig auf, wenngleich man kein Ende "à la Hollywood" erwarten darf, was das Können des Autors nur unterstreicht.

Einziges Manko ist - wenn man denn eines finden möchte -, dass der historische Hintergrund der Zeit ziemlich vernachlässigt wird. Bekommt man zwar eine Ahnung von der Tradition der Familienbande und die gesellschaftlichen Hierarchien, was der Atmosphäre des Buches sehr zuträglich ist, so darf man sich keine Einblicke in die damalige Politik erwarten. Angemerkt sei aber auch, dass dies für die Geschichte selbst höchstwahrscheinlich auch ein Zuviel an Information gewesen wäre und der Roman so schnell überladen gewirkt hätte. So ist der "Totenleser" Ci Song, dessen Existenz sehr wohl historisch belegt ist, eine äußerst interessante Figur und das Buch ein absolut empfehlenswerter historischer Roman mit vielen Krimi-Elementen.

Der Totenleser

Antonio Garrido, Rütten und Loening

Der Totenleser

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