Kindersucher

  • Aufbau
  • Erschienen: Januar 2012
  • 4
  • Aufbau, 2012, Titel: 'Children of Wrath', Originalausgabe
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Jörg Kijanski
851001

Histo-Couch Rezension vonSep 2012

Grausame Verbrechen im Vorgriff auf das Dritte Reich

Kurzgefasst:

Ende der 20er Jahre. Wirtschaftskrise. Willi Kraus ist der beste Ermittler in Berlin. Als Jude jedoch wird er von seinen Vorgesetzten schikaniert. Als in Berlin immer mehr Kinder verschwinden und an dunklen Orten seltsame Knochen auftauchen, beginnt Kraus zu ermitteln. Buchstäblich im Untergrund der Stadt findet er eine heiße Spur. Dann aber entzieht man ihm den Fall und protegiert einen anderen Polizisten, der sich als Anhänger einer neuen, angeblich patriotischen Partei erweist. Für Kraus wird die Luft im Präsidium immer dünner. Juden gelten plötzlich wieder als Vaterlandsverräter. Doch dann wird der Mordfall immer monströser - und seinen Vorgesetzten bleibt nichts anderes übrig, als Kraus zurückzuholen.

 

1929: Willi Kraus ist einer von ganz wenigen jüdischen Beamten bei der Berliner Polizei. Doch entgegen aller Unkenrufe seiner Kollegen wurde er nicht protegiert, sondern ist schlechtweg ein brillanter Ermittler. Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse, Jahrgangsbester beim Ausbildungslehrgang und eine Top-Aufklärungsquote. Gleichwohl wird er von seinen Kollegen geschnitten wo es nur geht und so ist er außer sich, als ihm ein neuer Fall weggenommen wird. In Lichtenberg werden in einem Jutesack mehrere Knochenteile gefunden. Wie sich herausstellt, gehören sie zu fünf kleinen Jungen und wurden - bevor man sie entsorgte - gekocht, so dass sich keine Spuren an ihnen finden. Dieser Fall dürfte nicht zuletzt in den Medien für großes Aufsehen sorgen, daher wird der Fall dem ebenfalls höchst erfolgreichen Ermittler Hans Freksa übertragen, für Kraus selbst bleibt nur ein scheinbar harmloser Fall von verdorbener Wurst.

Der Fall der mit dem Bazillus Listeria verunreinigten Wurst hat es jedoch in sich. Schnell gibt es die ersten Todesfälle, in Berlin wird kurzerhand stadtweit der Verkauf von Wurst verboten. Dann wird der vermeintliche Skandal so plötzlich wie er entstanden ist beendet. Angeblich sei die verantwortliche Firma entdeckt, doch ein Strafverfahren bleibt aus. Die zuständige Beamtin beim Gesundheitsministerium begeht kurz darauf Selbstmord und von einem ihrer Mitarbeiter erfährt Kraus, dass sich in der Wurst nicht nur ein tödlicher Bazillus befand, sondern noch eine weitaus bedenklichere Zutat. Offenbar hängt der Wurstskandal mit dem Verschwinden kleiner Jungen zusammen, deren Fall kurz vor dem Jahreswechsel einen erneuten Höhepunkt erfährt. Leichenteile von weiteren 23 Jungen werden gefunden und Hans Freksa kommt keinen Schritt voran. Als dieser von einem humpelnden Mann mit einem Klumpfuß unter Druck gesetzt wird, präsentiert Freksa auffällig schnell eine Lösung. Kraus erkennt jedoch, dass Freksa lediglich auf Geheiß einer neuen, aufstrebenden politischen Macht handelt und der Fall keineswegs gelöst ist ...

Großartige und packende Momentaufnahme

Berlin in den Jahren 1929 und 1930. Brillant zeichnet Autor Paul Grossman das Schreckensszenario im Vorfeld der drohenden Machtübernahme durch die Partei Adolf Hitlers. Noch sind sie eine eher unbekannte Größe, liefern sich Straßenschlachten mit den Kommunisten und verbreiten ihre dumpfen Parolen. Immer wieder sieht sich der jüdische Vizepräsident der Berliner Polizei, Dr. Weiß, den Schmähschriften eines gewissen Dr. Göbbels ausgesetzt und selbst Kraus´ Kollegen beteiligen sich rege an der um sich greifenden Hetze gegen Juden. Allen voran Hans Freksa, der offen mit dem Abzeichen der Partei durch die Gegend rennt, freilich ohne in dem aktuellen Fall voran zu kommen. Als Kraus´ später die Ermittlungen übernimmt, ist bereits ein großer Schaden entstanden.

Grossman liefert einen spannenden Kriminalfall, aber eine noch beeindruckendere Momentaufnahme des gesellschaftlichen Lebens. Wer sich schon mal die Frage gestellt hat, wie es damals eigentlich so weit kommen konnte, findet hier zumindest den Ansatz einer Erklärung am Beispiel von Kraus´ Nachbarn. Seit Jahren ist man befreundet, hat die Kinder quasi gemeinsam erzogen und plötzlich will man mit Juden nichts mehr zu tun haben. Die Zeiten ändern sich, also hält man sich von derartigen Leuten besser fern.

Der Fall selbst bietet eine Auflösung, die einem die Haare zu Berge stehen lässt angesichts der Brutalität der begangenen Verbrechen. Dass diese, um im Bild zu bleiben, "an den Haaren herbeigezogen sind", möchte man dem Autor vorwerfen, doch ist dem Leser klar, dass es sich hierbei nur um einen kleinen apokalyptischen Ausblick auf jene dunklen Jahre handelt, die Deutschland damals bevorstanden. Packende Zeitgeschichte in einen lesenswerten Krimi gepackt. Was will man mehr? Doch Achtung: Ein "Happy End" dürfen Sie bei Paul Grossman nicht erwarten.

Kindersucher

Paul Grossman, Aufbau

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