Der englische Patient

  • Hanser
  • Erschienen: Januar 1997
  • 1
  • Hanser, 1992, Titel: 'The English Pateint', Originalausgabe
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Almut Oetjen
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Histo-Couch Rezension vonApr 2012

Eine tiefgründige Schönheit

Kurzgefasst:

1945 finden sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs vier Menschen in einer zerbombten Villa in der Toskana ein, die zuvor den Alliierten als Lazarett gedient hatte. Nach deren Abzug blieb die 20-jährige kanadische Krankenschwesterm Hana mit einem nicht transportfähigen unbekannten englischen Patienten zurück, der bei einem Flugzeugabsturz in der Libyschen Wüste schwerste Verbrennungen erlitten hatte. Zu den beiden gesellt sich David Caravaggio, ein früherer Freund von Hanas Vater, der von ihrer Anwesenheit in der Villa gehört hatte und sie nun schützen will; später stösst Kirpal Singh, genannt Kip, zu ihnen, ein Pionier der britischen Armee. Trotz des Zusammenlebens in der Villa bleibt jeder der vier mit seiner Vergangenheit und den Kriegstraumata allein. An den Abenden liest Hana dem englischen Patienten verschiedene Bücher aus der Bibliothek der Villa vor. Eine zentrale Rolle spielt ein altes Exemplar der Historien (entst. 445-430 v. Chr.) von Herodot, das der englische Patient auf wundersame Weise retten konnte. Das Buch ist eine Art Tagebuch des Patienten; es enthält Briefe, Zeichnungen und persönliche Notizen und scheint somit der Schlüssel für seine Herkunft zu sein.

 

Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Nordafrika und Italien. Hana, eine junge Krankenschwester der kanadischen Armee, pflegt in einer verlassenen toskanischen Villa einen Patienten, von dem sie lediglich weiß, dass er Engländer ist und einen Flugzeugabsturz mit fürchterlichen Verbrennungen überlebt hat. Sein einziger Besitz ist ein Buch, die "Historien" von Herodot, das er mit Anmerkungen versehen hat. Er erinnert sich an Unternehmungen in der Wüste, nicht aber an seinen Namen.

Der Kanadier Caravaggio, der seit den späten 1930er Jahren für den Britischen Geheimdienst arbeitet und mit Hanas im Krieg ums Leben gekommenen Vater befreundet war, kommt auf der Suche nach Hana in die Villa. In einem Krankenhaus hat er mitbekommen, dass Hana sich um einen Patienten mit Brandverletzungen kümmert. Caravaggio war Gefangener der Nazis, wurde verhört und gefoltert. Seine Daumen wurden abgeschnitten, und er ist, wie der englische Patient, morphiumsüchtig. Hana versorgt beide Männer mit Drogen.

Zwei britische Soldaten kommen zur Villa. Einer von ihnen, der indische Sikh Kip, freundet sich mit dem englischen Patienten an, der bald seine Geschichte erzählt. Der Patient heißt László de Almásy und ist ein ungarischer Wüstenforscher, der für eine britische Gruppe von Kartographen arbeitete und beschloss, seine Herkunft und Identität zu vergessen.

Beschädigte Charaktere

Den Roman zu etwas besonderem macht Ondaatjes Kontrolle über die Sprache. Er schreibt in Momenten so, dass der Text direkt in Filmbilder übertragen werden kann, in anderen Momenten so, dass eine, zumindest angemessene, Übertragung nicht möglich ist. Wenn man versucht, seine Charakterisierungen in Bilder zu übersetzen, merkt man schnell, dass sie eine emotionale und psychologische Tiefe aufweisen, die sich gegen die Ökonomie des filmischen Erzählens sperrt. Deshalb lernt man in Anthony Minghellas Verfilmung, verglichen mit Ondaatjes Roman, nur die Oberfläche der Charaktere kennen, die dort nie ein Moment des Traumhaften und Nichtgreifbaren verlieren. Man beurteilt sie nahezu ausschließlich nach den Gefühlen, die man für sie entwickelt.

Ondaatje erzeugt in seinem Roman eine Atmosphäre der Unsicherheit. Die Charaktere sind auf den ersten Blick nichts als Schein, ein Eindruck, den ihre Erzählungen noch verstärken. Die vier beschädigten Hauptfiguren versuchen mit ihrer Vergangenheit zurechtzukommen. Die Titelfigur ist kein Engländer, weiß, dass das Krankenbett sein Totenbett ist und erzählt die Geschichte seiner Liebe zur verheirateten Katharine Clifton. Der Dieb und Spion Caravaggio benutzt seine Kenntnisse über Morphiumabhängigkeit, um dem Patienten dessen Geschichte zu entlocken. Hana ist traumatisiert durch ihre Kriegserlebnisse und den Tod ihres Vaters. Kip wird Hanas Liebhaber und der Freund des Patienten.

Ondaatje präsentiert sein Material nicht linear, wechselt zwischen den Charakteren, deren Vergangenheit sich langsam entfaltet. Er bestimmt Themen, reißt sie kurz an und improvisiert über sie in einer poetisch reizvollen Sprache. Die Verfilmung stellt dabei wesentlich intensiver ab auf die leidenschaftliche Romanze und die Dreiecksgeschichte, als dies im Roman der Fall ist. Die Charaktere sind allesamt einsame Menschen, die sich in der Isolation eingerichtet haben. Zugleich weisen sie Verbindungen zu anderen Menschen auf, die jedoch problembehaftet sind. Dass sie keine Zukunft haben, wird deutlicher mit jeder Schicht, die aus der Vergangenheit entblößt wird.

Sprachlich hohes Niveau

Michael Ondaatjes Der englische Patient ist ein intellektuell und emotional ansprechender Roman, der in beeindruckender Weise die Komplexität und die Bruchstückartigkeit menschlichen Lebens abbildet. Dies geschieht nicht über eine dem Stoff und seiner Repräsentation unangemessene lineare Erzählweise, sondern durch eine Vernetzung historischer, biographischer und psychologischer Momente der Hauptfiguren, die eine spannende und an Subtext reichhaltige Geschichte erzeugen. Man mag den Roman für einen Beitrag zur Postmoderne halten. Jedenfalls ist er poetisch erzählte Prosa auf sprachlich höchstem Niveau.

 

Der englische Patient

Michael Ondaatje, Hanser

Der englische Patient

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