Nach dir, Max

  • Osburg
  • Erschienen: Januar 2012
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  • Osburg, 2009, Titel: 'Sinun jälkeesi, Max', Originalausgabe
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Rita Dell'Agnese
961001

Histo-Couch Rezension vonMär 2012

Keinen Körper für sich alleine

Kurzgefasst:

Max und Isaak kommen 1899 in Deutschland als siamesische Zwillinge auf die Welt. Sie sind an der Hüfte miteinander verwachsen. Ihre Familie verkauft sie an einen Zirkus. Ein Glücksfall für die Zwillinge! Denn dort treffen Max und Isaak auf andere Menschen mit Handicaps und fühlen sich als Gleiche unter Gleichen. Darüber hinaus finden sie später im Cabaret und Varieté als Artisten Anerkennung und Wertschätzung. Schließlich gelangen die Zwillinge nach Helsinki. Dort begegnen sie Iris, einer Frau, der die Männer nicht nur zu Füßen liegen, sondern die sie auch skrupellos ausnutzt. In sie verliebt sich Isaak Hals über Kopf.

 

Max ist nie ohne Isaak und Isaak nie ohne Max. Die beiden Brüder sind im Hüftbereich miteinander verwachsen, teilen sich eine Leber, haben aber zwei Herzen und zusammen drei Lungenflügel. Eine Trennung der siamesischen Zwillinge kommt 1920 nicht in Frage. Die Medizin ist noch nicht soweit, das Experiment zu wagen. So wachsen die beiden zunächst verborgen auf einem abgelegenen Hof heran, von ihrem Großvater als Monster tituliert, von ihrer Tante innig geliebt. Als Max und Isaak erkennen, dass sie ihren gemeinsamen Körper zur Schau stellen und damit Geld verdienen können, brechen sie aus der gewohnten Welt aus und tingeln durch die Zirkusse auf allen Kontinenten. Dabei bleibt ihnen immer die Gewissheit, nie alleine zu sein. Aber auch das Wissen darum, sich nie zurückziehen zu können. Die beiden unterschiedlichen Brüder gehen jeweils ganz anders mit der Situation um und geraten gerade dadurch immer wieder in Streit. Je älter sie werden, desto deutlicher stellt sich die Frage nach ihrer Zukunft.

Von eindringlicher Faszination

Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt sich die finnische Autorin Leena Parkkinen auf dem rutschigen Parkett des guten Geschmacks. Nicht ein einziges Mal leistet sie sich einen Ausrutscher. Sie wird mit ihrer feinfühligen Beobachtung und ihrer schnörkellosen Widergabe der Situation dem außergewöhnlichen Zustand der beiden so ungleichen Brüder Isaak und Max gerecht. Als Erzähler der Geschichte wählte Parkkinen den eher introvertierten Isaak. Er ist es, der zurückstecken muss, wenn Max zur Hochform aufläuft. Denn Isaak hat gegenüber Max einige Nachteile, dies auch bei den Körpergliedern. So ist etwa Isaaks zweiter Arm nur unvollständig ausgebildet und auch seine Geschlechtsmerkmale sind teilweise verkümmert. Es ist dem überragenden Erzähltalent der Autorin zu verdanken, dass die kleineren und größeren Alltagsprobleme, mit denen sich die Brüder herumzuschlagen haben, weder zu banal erscheinen noch die Geschichte so stark beschweren, dass sie unlesbar wird. Im Gegenteil: Parkkinen stillt die Neugier des Publikums ohne Effekthascherei, aber mit der Fähigkeit, eine eindringliche Faszination herauf zu beschwören.

Raum für den Hauch der Zeit

Bei diesem Thema müsste man davon ausgehen, dass kein Platz für andere Eindrücke mehr bleibt. Dem ist aber nicht so. Genau so intensiv wie das Bild der beiden Brüder skizziert die Autorin den Zeitgeist der 1920er Jahre. Sie erzählt vom Lebenshunger der Menschen, der sich zur Unfähigkeit steigert, Normalität zu ertragen. Isaak und Max sind in diesem Kontext nur ein Detail, das zur gesellschaftlichen Entwicklung passt: Je ausgefallener, desto besser. So schwirren denn auch immer wieder Menschen um das Brüderpaar herum, die selber eine höchst exzessive Ausstrahlung besitzen. Ein Beispiel dafür ist Iris, die bei Isaak Phantasien auslöst, aber für ihn trotz allem nicht fassbar wird. Am Ende bleibt der mit wohligem Grausen gepflegte Voyeurismus der Menschen, die in den Nachkriegs- und gleichermaßen Vorkriegsjahren leben. Sie wollen die Schrecken der grausamen Kriegsjahre dadurch vergessen, dass sie sich einem wilden Leben hingeben und vermeintlich das Abnorme zur Normalität machen. Im Bestreben um Auffälligkeit schmücken sich die Menschen in diesen Jahren mit der Nähe zur Laune der Natur, wenngleich sie noch immer Kinder einer Zeit sind, die zwar den Fortschritt wie ein Banner hoch hält, aber in einer puritanischen Denkweise verwurzelt ist. Isaak und Max haben keine Chance auf ein "normales" Leben. Sie sind die Trophäe einer nie ruhenden Gesellschaft, die sich immer schneller um sich selber dreht und nicht mehr zur Ruhe kommt.

Sorgfältig ausgearbeitet

Dass Nach dir, Max zu einem Lese-Erlebnis der besonderen Art geworden ist, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst des Osburg-Verlages. Die Wahl von Gabriele Schrey-Vasara als Übersetzerin war ein kluger Entscheid, ebenso wie der Verzicht auf ein effekthaschendes Cover.

So wird hier ein historischer Roman vorgelegt, den man nach der Lektüre nicht mehr einfach beiseitelegen kann. Der Gedanke an Max und Isaak hallt noch lange nach und selbst bei einfachsten täglichen Verrichtungen wie etwa dem nächtlichen Gang zur Toilette wird man sich die Frage stellen, wie es sich anfühlen würde, nie etwas spontan zu tun, ohne den Bruder (oder die Schwester) bitten zu müssen, mitzukommen.

Es ist zu wünschen, dass Leena Parkkinen nach diesem grandiosen Debüt-Roman weiteres folgen lässt, das sowohl inhaltlich als auch sprachlich dem Auftakt das Wasser reichen kann. Denn dann darf man sich auf außergewöhnliche Romane freuen.

 

Nach dir, Max

Leena Parkkinen, Osburg

Nach dir, Max

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