Das Buch der Kinder

  • Fischer
  • Erschienen: Januar 2011
  • 0
  • Fischer, 2009, Titel: 'The Children\\\'s Book', Originalausgabe
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Almut Oetjen
911001

Histo-Couch Rezension vonNov 2011

Geschichten erzählen

Kurzgefasst:

Im Süden Englands, in London, Paris und im zügellosen Schwabing suchen die Familien Wellwood, Fludd und Cairn am Ende des 19. Jahrhunderts ein freieres und erfüllteres Leben, sie proben neue Wege in Kunst und Politik, Liebe und Erziehung. Immer mit dabei sind die vielen Kinder, die sich mit ihren unterschiedlichen Talenten und Temperamenten einen Weg durch die Lebensexperimente ihrer Eltern bahnen. Aber alle Familien, auch die fortschrittlichsten, haben ihre dunklen Geheimnisse. Am Ende drohen Enttäuschung, Verrat und der große Krieg.

 

London 1895: Queen Victoria lebt noch immer, Oscar Wilde sitzt wegen Homosexualität im Zuchthaus, die Börse bebt wegen der Frage des Goldstandards, Charles Booth hat eine Zählung der Armen mit ernüchterndem Ergebnis durchgeführt, der kleine Philip Warren ist dem sozialen Elend der Töpfereien in Burslem entflohen und versteckt sich in der Krypta des kunsthandwerklichen South Kensington Museum (dem späteren Victoria and Albert Museum) an der Cromwell Road. Philip interessiert sich für das Töpfern, er möchte "etwas machen". Julian entdeckt ihn und bringt ihn zu seinem Vater, dem für Edelmetalle zuständigen Kustos Major Prosper Cain, der nach dem Tod seiner italienischen Frau seinen Sohn und seine Tochter Florence allein erzieht.

Cain hat gerade Besuch von der bekannten Märchenbuchautorin Olive Wellwood, die seinen Expertenrat für ein neues Buch benötigt. Olive nimmt Philip zunächst mit auf ihr Anwesen Todefright im Kentish Weald, wo sie mit ihrem Mann, ihrer Schwester Violet, ihren zahlreichen Kindern und diversem Personal in Wohlstand lebt. Olive hat als Kind eines Bergarbeiters ähnlich wie Philip in der Kindheit Armut und Verlust kennengelernt. Durch ihre Heirat mit dem Banker und Journalisten Humphrey Wellwood hat sie den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft. Die Erinnerungen an das Bergarbeiterleben nutzt sie als Inspiration für ihre Märchen und Volkssagen, deren Erfolg sie finanziell unabhängig macht. Die Kindererziehung übernimmt derweil ihre Schwester Violet.

Todefright ist ein kleines Paradies, märchenhaft und verspielt, oberflächlich ordentlich und harmonisch. Dort werden die Kinder nicht wie kleine Erwachsene oder Puppen behandelt, sondern können sich frei entfalten und werden von den Erwachsenen ernst genommen. Auf Todefright entdeckt Philip einen Krug von Benedict Fludd, dem genialischen wie manischen Meistertöpfer, der in den rauen Marschen von Dungeness lebt. Philip wird Fludds Lehrling und zieht zu ihm nach Purchase House, einem furchterregenden Ort, verwahrlost und abweisend, in dem es eine verschlossene Kammer mit erotischen Mädchenskulpturen gibt, die den Töchtern ähneln.

Vier Kernfamilien mit vierzehn Kindern bevölkern den fiktiven Kosmos, jede Familie bekommt eine eigene Geschichte, jede Figur eine eigene Stimme. Byatt verbindet nahtlos die verschiedenen Erzählstränge über zwei Generationen und schildert die Suche der Kinder nach Selbstbestimmung und Herkunft und ihre romantischen Verwirrungen, während manche Erwachsene in ihre Kindheit zurückkehren. (Es kann einem manchmal schwindlig werden, doch das beigefügte Namensverzeichnis der wichtigsten Figuren hilft bei der Orientierung.)

Grimmsche Märchen - grimmige Realität

Das Buch der Kinder ist ein Vexierspiel über das Schreiben oder den künstlerischen Prozess. Byatt schafft immer neue Erzählstränge und Figuren mit immer neuen Geschichten, die wiederum auf alte Geschichten zurückgehen und neue Geschichten hervorbringen. Die Heldin ist eine Schriftstellerin, deren Erfolg auf Kosten der Kinder geht. Ihre Ideen bezieht sie aus den Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und dem kulturellen Fundus. In ihrem kreativen Schaffensprozess entfremdet sie sich ihren Kindern immer stärker, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und ihre Autonomie als Person zu wahren. Das wichtigste Verbindungsglied zwischen Mutter und Kindern sind die Geschichten, die sie für jedes ihrer Kinder schreibt, die immer fortgeschrieben und in einer Glasvitrine in einem verzierten Buch aufbewahrt werden. Manche Geschichten sind in die Haupthandlung eingestreut als Buch im Buch, zusammen mit anderen ihrer Märchen.

Ihr Egoismus als Künstlerin wird gespiegelt und vergrößert in Benedict Fludd, der seine Familie in unermesslicher Armut leben lässt, seine Frau Seraphita nur wegen ihrer Rossetti-Schönheit begehrt hat, die Töchter für die Kunst missbraucht, den Sohn überflüssig findet und ignoriert und sein Umfeld seinen schrecklichen Launen aussetzt. Kinder, so Olive, könnten zwischen Märchen und Wirklichkeit trennen. Aber sie und Fludd können es nicht und lösen damit Katastrophen aus. Oscar Wilde, dessen Prozess auf der Sommersonnenwendfeier auf Todefright 1895 wichtiges Gesprächsthema ist, habe, so Theaterregisseur und Familienfreund August Steyning, das Gericht mit "Witzeleien" unterhalten. Der Dandy und Schriftsteller verwechselte das Gericht mit der Theaterbühne und brachte sich damit selbst zu Fall.

Das Leben der Kinder mutet wie ein Märchen an, düster wie ein Grimmsches Märchen das von Philip und seiner Schwester Elsie, die sich mit Aschenputtel vergleicht, weil sie sich allein um den Haushalt der Fludds kümmert, während die Hausherrin und die Töchter vor sich hindämmern. Die Wellwood- und Cain-Kinder führen ein freies, sorgenloses Leben voller Vergnügungen wie im Schlaraffenland. Steyning vergleicht Tom Wellwood mit Peter Pan. Charles Cain nähert sich neuen politischen Ideen spielerisch an, indem er sich das Pseudonym Karl zulegt und sich als Proletarier verkleidet.

Doch das Leben ist kein Märchen. Humphrey Wellwood hat eine Geliebte, die er schwängert, Tom wird zum Opfer sadistischer Mitschüler, Dorothy ist ein Kuckuckskind - nicht das einzige in der Familie - und begibt sich auf die Suche nach ihrem richtigen Vater nach München. Untreue Ehemänner, missbrauchende Väter, verantwortungslose Eltern und die sexuelle Naivität der Mädchen zerstören die Idyllen der Kindheit. Daneben ist "Das Buch der Kinder" auch eine Studie der großen Wiederbelebung britischer Kinderliteratur, die um die Jahrhundertwende stattfand. J.M. Barrie, Edith Nesbit oder Kenneth Graham (Direktor der Bank of London) schrieben ihre Meisterstücke, auch Oscar Wilde verfasste eine Reihe wunderbarer Märchen, ursprünglich erdacht für seine beiden Söhne.

Dekadenz, Anarchismus und Hurrapatriotismus

Byatt orchestriert nicht nur ein zahlenmäßig ausuferndes Figurenensemble, sondern verwebt darüber hinaus das Leben ihrer fiktiven Figuren kunstvoll mit dem realhistorischen Kontext, der Zeit von 1895 bis 1919 in England und Deutschland. Es ist eine Zeit des Umbruchs. Das Empire befindet sich auf der Höhe seiner ökonomischen und politischen Macht, aber auch in einer schweren Krise. Außenpolitisch fühlt es sich von Deutschland, Italien, Frankreich und Russland bedroht, innenpolitisch ist es zerrissen durch die Verelendung der Massen und die Forderung nach Wahlrechtsreformen. Mit Hurrapatriotismus stürzt man sich in den Burenkrieg, später in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Byatts Figuren sind immer mittendrin im Wirbel der Zeit, bewegen sich unter Freigeistern, Anarchisten, Sozialisten, erleben Weltausstellung, Börsenkrisen, Sabotageakte und Gefängnis.

Die Realhistorie ist keine Hintergrundtapete, sondern bildet mit der Romanhandlung eine organische Einheit und ist ins Detail präzis recherchiert. Manche Abhandlungen über Töpferei oder Marionettentheater fügen der Narration wenig hinzu und erfordern Geduld vom Leser.

Fazit

Das Buch der Kinder ist ein intellektueller, anspielungsreicher und düsterer Roman, der tiefen Ernst mit Satire zu einem kunstvollen Ganzen verknüpft.

Das Buch der Kinder

A. S. Byatt, Fischer

Das Buch der Kinder

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