Der Fall Kurilow

  • btb
  • Erschienen: Januar 1998
  • 0
  • btb, 1933, Titel: 'L\'Affaire Courilof', Originalausgabe
Wertung wird geladen
Jörg Kijanski
851001

Histo-Couch Rezension vonApr 2011

Zweifel eines Attentäters

Léon M., einst Kommissar der Tscheka, dem "bewaffneten Arm der Diktatur des Proletariats", die von Lenin nach der Oktoberrevolution zur Bekämpfung der Opposition ins Leben gerufen wurde, schreibt 1931 seine Memoiren. Im Alter von zehn Jahren erlebt er 1891 den Tod seiner Mutter, die in Genf ein Terroristenkomitee leitete, nachdem ihr Mann, Leons Vater, bereits Jahre zuvor verhaftet wurde. Das Komitee kümmert sich um Leon und entscheidet 1903 in seiner jährlichen Zusammenkunft, dass Walerian Alexandrowitsch Kurilow exekutiert werden soll. Kurilow, ein Protegé Zar Alexanders III. gilt als äußerst brutal und geht mit aller Härte als Minister für das Schulwesen gegen Studierende vor.

 

"Man müßte eine Geheimgesellschaft schaffen, deren Aufgabe es wäre, diese verdammten Sozialisten, Revolutionäre, Kommunisten, Freidenker und alle Juden, selbstverständlich, auszurotten … Man könnte ehemalige Banditen, nach gemeinem Recht Verbrecher, anstellen und ihnen Straferlaß versprechen. Diese Leute, diese revolutionäre Kanaille, die verdienen nicht mehr Mitleid als tollwütige Hunde…"

"Teufel! Mein Lieber, was für eine radikale Lösung. Davon sind wir noch weit entfernt, leider!"

 

Leon reist als Marcel Legrand und Doktor der Medizin mit einem Schweizer Pass nach St. Petersburg, wo es ihm gelingt, in die Dienste Kurilows aufgenommen zu werden. Da das geplante Attentat aber gleichzeitig eine besondere Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit erfahren soll, lebt Leon zunächst einige Monate an der Seite Kurilows und lernt diesen näher kennen. Doch mehr und mehr blickt Leon hinter die bröckelnde Fassade Kurilows und zweifelt zunehmend am Sinn seiner Mission…

Auch nach 80 Jahren noch sehr lesenswert

Irène Némirwosky wurde im Alter von nur 39 Jahren 1942 in Auschwitz ermordet. Zuvor erlangte sie eine gewisse Berühmtheit mit ihrem Roman David Golder, bevor sie längere Zeit in Vergessenheit geriet. Mittlerweile ist die Autorin wieder "zu entdecken", so mit dem vorliegenden Roman Der Fall Kurilow, der erstmals 1933 unter dem Titel L’Affaire Courilof erschien.

Der seit Kindheit an Lungentuberkulose erkrankte Protagonist, Leon M. alias Marcel Legrand, schreibt seine Memoiren, in denen es neben einem kurzen Lebenslauf vor allem um sein Attentat auf den Erziehungsminister des Zaren Nikolaus II., den krebskranken Kurilow, geht. Es ist ein historischer Roman im weitesten Sinne, mehr jedoch ein Psychogram zweier Männer, in dem Leon mehr und mehr den Sinn seiner Mission bezweifelt. Zunehmend lernt Leon den wahren Kurilow kennen. Ein Staatsmann, dessen oberstes Gebot die Pflichterfüllung gegenüber dem Zaren ist; geblendet von einer grenzenlosen Selbstverliebtheit.

 

"Ich habe Vertrauen in das Urteil der Nachwelt", murmelte Kurilow. "Rußland wird meine Feinde vergessen, aber mich wird es nicht vergessen. Das alles ist hart, das alles ist schwer. Es heißt, man muß Blut vergießen können, und das ist wahr…"

 

Gefangen in Irrtümern, Träumereien und einer enormen Skrupellosigkeit gibt es für Kurilow nur seine staatstragende Pflicht. Dabei ist er längst von seiner Krankheit gezeichnet, gleichwohl kennt er kein Pardon weder gegen seine Feinde noch sich selbst. Sein Lebenszweck richtet sich ausschließlich auf die eigene Person und seine Vasallentreue, blind gegenüber den gegen ihn gerichteten politischen Intrigen sowie der Realität.

 

"Die Herrscher", sprach langsam der alte Minister des Äußeren, "sind, das habe ich in meinem langen Leben beobachtet, eben zu sehr bereit, den edlen Neigungen ihres großmütigen Herzens zu folgen. Es ist Aufgabe ihrer Minister, diese edlen Anwandlungen mit den praktischen Realitäten und ökonomischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen."

 

Mitleid und Verachtung gegenüber Kurilow halten sich alsbald bei Leon die Waage. Warum einen sterbenskranken Minister umbringen; ein anderer, womöglich noch schlimmerer Kandidat folgt an seiner Stelle doch umgehend nach. "Der Fall Kurilow" ist ein spannendes Psychogramm, das auch nach über 80 Jahren immer noch lesenswert ist und an zahlreichen Stellen zum Nachdenken anregt. Die "Illusion der Macht" treibt Kurilow an, dabei geht diese von ganz anderen Figuren in einem gigantischen Schachspiel aus. Wer sich für das Wechselspiel zwischen Politik und Macht interessiert sollte zugreifen. Lesenswert!

Der Fall Kurilow

Irène Némirovsky, btb

Der Fall Kurilow

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Der Fall Kurilow«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Zeitpunkt.
Menschen, Schicksale und Ereignisse.

Wir schauen auf einen Zeitpunkte unserer Weltgeschichte und nennen Euch passende historische Romane.

mehr erfahren