Reigen des Todes

  • Gmeiner
  • Erschienen: Januar 2010
  • 1
  • Gmeiner, 2010, Titel: 'Reigen des Todes', Originalausgabe
Reigen des Todes
Reigen des Todes
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Dirk Jaehner
821001

Histo-Couch Rezension vonJul 2010

Detaillierter Schauerroman aus dem Wien der Jahrhundertwende

Kurzgefasst:

Wien 1908. Als am Ufer des Donaukanals ein abgetrennter Unterarm entdeckt wird, wittert Gerichtsredakteur Leo Goldblatt die große Story. Doch nicht nur diese mysteriöse Angelegenheit schlägt dem Inspector und ausgewiesenen Gourmet Joseph Maria Nechyba gewaltig auf den Magen, sondern auch die Suche nach dem seit Tagen vermissten Oberstleutnant Vestenbrugg. Bewegung kommt erst in den Fall, als Vestenbruggs abgeschnittener Kopf auftaucht und sich herausstellt, dass er eine junge Geliebte hatte: Steffi Moravec, deren amouröse Fähigkeiten auch andere Herren der Wiener Gesellschaft sehr zu schätzen scheinen...

 

Wien schreibt das Jahr 1908. Die Sezession, die künstlerische Bewegung des Jugendstils, ist auf ihrem Höhepunkt. Oskar Kokoschka und Gustav Klimt sorgen für künstlerische Skandale. Sigmund Freud entwickelt seine Psychotherapie. Kaiser Franz Josef feiert 60. Thronjubiläum. Und Oberstleutnant Vestenbrugg von den Hoch- und Deutschmeistern wird seit Tagen vermisst. Gleichzeitig findet ein Stadtstreicher in einem Haufen Lumpen einen abgetrennten Unterarm, zu dem sich wenig später auch noch ein Kopf gesellt. Joseph Maria Nechyba, Inspector der Polizei und Gourmet, hat keine Probleme, den Kopf als den des vermissten Vestenbrugg zu identifizieren. Als bald darauf eine weitere Leiche aus der Wien gezogen wird, scheint alles darauf hinzudeuten, dass die einstige Sitzkassierin Steffi Moravec in die Sache verwickelt ist. Wie tief, würde Nechyba sie gerne selbst fragen. Doch dazu muss er sie erst einmal finden...

In seinem zweiten Fall nach Die Naschmarkt-Morde schickt Loibelsberger seinen Hauptprotagonisten Nechyba wieder in das Labyrinth der Wiener besseren Gesellschaft. Doch obwohl der Ermittler in einer Kriminalgeschichte eigentlich die Hauptfigur ist, hat er weniger Auftritte als die Hauptverdächte, jene Sitzkassiererin Steffi Moravec. Loibelsberger gibt der Schilderung ihrer Herkunft und ihres unsteten Lebenswandels als professionelle Geliebte diverser Männer - vom "Edelknaben"-Hauptmann über einen adeligen Hofangestellten bis zu einem Filmproduzenten - in bester "Tatort"-Manier breiten Raum. Denn eigentlich ist von Anfang an klar, dass sie etwas mit den beiden Toten zu tun hat. In seinen Ermittlungen kommt Nechyba eigentlich immer einen Schritt zu spät, sogar als er - schon Jahre nach den Ereignissen - die Moravec endlich stellen kann. Denn da hat ihr eigener, unsittlicher Lebenswandel sie schon in den Abgrund gerissen.

Gesellschaftskritik? Nicht wirklich

Dafür malt Loibelsberger ein prächtiges Wien-Bild der Jahrhundertwende. Doch die Pracht ist oberflächlich, und auch daran lässt er keinen Zweifel. Er zeigt die Kehrseite des typisch wienerischen Lebenswandels mit täglichem Kaffeehaus-Besuch, Stadtadel, Hofschranzen und Wiener Schmäh, nämlich das armselige Leben der Bettler und Stadtstreicher. Diese Gesellschaftsschicht wird vom mondänen Wien am liebsten nicht wahrgenommen. Doch weil ein Zeitungsreporter in die Angelegenheit verstrickt ist, bekommen Wiens obere Zehntausend das Elend der Klassenlosen hautnah mit. Und kümmern sich trotzdem nicht weiter darum. Auch eine weitere Institution des selbstverliebten Wiens bekommt durch den Autor Schrammen. Das renommierte k.u.k. Infanterieregiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4, im Volksmund "Edelknaben" genannt, erscheint in keinem besonders guten Licht und kann nur schwer seinen Ruf verteidigen.

Doch so tiefgreifend gesellschaftskritisch ist Loibelsbergers Krimi gar nicht. Zwar wischt er den hochnäsigen Adligen, den selbstgefälligen Soldaten, den arroganten Zeitungsschreibern und den hochfliegenden Dienstboten gehörig eins aus. Aber er tut das mit dem berüchtigten Wiener Schmäh, der auf unnachahmliche Weise Überheblichkeit, Selbstironie und eigenes Leiden an der Welt verquickt und mit einem höflichen Lächeln und einer Wiener Melange (Milchkaffee mit Milchschaum) kaschiert.

Grausame und nicht so grausame Details

Und Loibelsberger spart nicht mit Details, blutigen wie unblutigen. Manche Passage des Romans liest sich ein bisschen wie eine Hommage an die Schauerromane, die "gothic novels", die ungefähr zu dieser Zeit, 1908, aus England auf den Kontinent schwappten, Dracula von Bram Stoker ist wohl der prominenteste von ihnen. Überhaupt ist der Reigen des Todes ein Panoptikum menschlicher Schlechtigkeiten. Loibelsberger breitet Grausamkeiten vor dem Leser aus, und stammten sie auch nur aus der Fantasie, wie der angebliche Kannibalismus unter den Stadtstreichern. Doch die Art und Weise, wie er über die Beseitigung der Leiche Vestenbruggs schreibt, wie er am Schicksal der Steffi Moravec eigentlich von Anfang an keinen Zweifel lässt, geht über die Schilderungen der damaligen "gothic novels" hinaus.

Eine interessante Episode des Buches sind die "Films". Die zu dieser Zeit entstehende Filmindustrie spielt auch ihren Teil in der Schauergeschichte. Sigmund Freud wird Pate gestanden haben. Denn so wie die Prostitution das älteste Gewerbe der Welt genannt wird, gehört der Pornofilm - oder seine "Herrenfilm" genannte harmlose Variante - wohl mit zu den ältesten Film-Sujets. Loibelsberger lässt seine gescheiterte Existenz Steffi Moravec auch hier ihren Part spielen. In Wirklichkeit ist ihre zweifelhafte Karriere in dieser Branche nur eine weitere Stufe abwärts auf ihrer Lebensleiter.

Doch kein Schund

Dass Loibelsbergers Roman doch nicht als Schundroman durchgeht, liegt daran, dass er zwar aus allen Elementen besteht, die einen Schundroman ausmachen, in der Art ihrer Zusammenfügung jedoch mehr als die Summe seiner Teile bildet. Nicht unwesentlich sind der feine Humor, der immer wieder Distanz schafft, und die ab und an eingestreuten kulinarischen Abenteuer, die besonders Polizeiinspector Nechyba in aller Ausführlichkeit erlebt. Für die nächste Ausgabe sollte der Autor vielleicht ein Verzeichnis der Gerichte und ihrer Rezepte anfügen. Damit der Leser wenigstens den Geschmack Wiens auf die Zunge bekommt.

 

Reigen des Todes

Gerhard Loibelsberger, Gmeiner

Reigen des Todes

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