Der Schneeflockenforscher

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  • Erschienen: Januar 2009
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  • , 2009, Titel: 'Der Schneeflockenforscher', Originalausgabe
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Carsten Jaehner
851001

Histo-Couch Rezension vonMär 2009

Ein ganz besonderes Buch

Kurzgefasst:

Ein Turmwächter in einer verblühenden Handelsstadt entdeckt Anfang des 17. Jahrhunderts, während Religionskriege und Bauernaufstände unseren Kontinent überziehen, das "Wunder" der Schneeflocke: Jeder Schneestern hat sechs Strahlen, und kein Stern scheint dem anderen zu gleichen. Welches Geheimnis, so fragt er sich, steckt hinter dieser märchenhaften Schönheit? Ist es das Alphabet aus dem Weltenall? Sind es Zeichen vom Himmel? Eine jahrelange Suche nach der vollkommenen Schneeflocke beginnt, eine Suche, die von Einsamkeit und Leidenschaft, von Entäuschung und der unaufhörlichen Sehnsucht nach der vermeintlich unerreichbaren geliebten Frau geprägt ist.

 

Jakob Kreutzer lebt im österreichischen Freistadt in der Nähe von Linz. Als Türmer des Bergfrieds bewacht er die Stadt und besitzt neben seiner hochgelegenen Wohnung auch ein kleines Areal seiner verstorbenen Eltern unten im Ort. Im Jahr 1607 findet er eine neue, kleine, aber sehr feine Nebenbeschäftigung, die ihm sprichwörtlich in den Schoß fällt: Er wird Schneeflockenforscher. Von seinem exponierten Platz über der gut befestigten Stadt sieht er das Wetter kommen, fängt die Flocken, untersucht sie und stellt dabei ihre einmalige Schönheit fest, die ihn fortan fasziniert.

Da er als Eigenbrötler gilt, der allerdings ein enormes Wissen hat, unterrichtet er zwar gelegentlich die Kinder der Stadt, muss dies aber heimlich tun und auch immer an unterschiedlichen Orten, wo sie nicht entdeckt werden. Zwei seiner Schüler bekommen dabei besondere Aufmerksamkeit: Raffael, der Sohn des Schmieds und ein kleiner Gauner, der bald dem Unterricht fernbleibt und lieber mit seiner Bande umherzieht. Und Marie, ein wissbegieriges und hübsches Mädchen, in das Jakob heimlich verliebt ist. Als der Unterricht der Kinder vollends untersagt wird, besucht Marie ihn auf dem Turm, und er weiht sie in die Geheimnisse der Schneeflocken ein. So wird sie zu seiner Komplizin, bis sie mit ihrer Familie aus Freistadt wegzieht.

Während Jakob in seinem Turm sitzt und den Schneeflocken abschwört, nähert sich nach und nach der Dreißigjährige Krieg, der auch bald Freistadt mit in seine grausamen Schlachten zieht. Über viele Jahre hinweg lebt Jakob vor sich hin, in Gedanken immer bei Marie, die er einfach nicht vergessen kann. Eine Begegnung mit Johannes Kepler, der ihn auf seinem Turm besucht, führt ihn zurück zu seinen Forschungen und irgendwann glaubt er auch, Marie wieder gesehen zu haben. Doch ist alles nur ein Traum und Einbildung von ihm?

Keine wörtliche Rede und dennoch interessant

Mit seinem "Schneeflockenforscher" legt Fritz Lehner einen sehr ungewöhnlichen Roman vor, über 624 Seiten die außergewöhnliche Geschichte eines außergewöhnlichen Mannes erzählt. So findet sich im ganzen Buch nicht eine wörtliche Rede, was nicht bedeutet, dass Jakob stumm ist. Erzählt wird trotzdem alles aus seiner Perspektive - und die kann den Leser zwischendurch tatsächlich in den Wahnsinn treiben.

Immer nimmt der Leser an den Gedankengängen Jakobs teil. Man übernimmt seine Sorgen, seine Ängste, all seine Gedanken, durch alle Extreme hindurch. Er wirkt wie ein unsicherer Eigenbrötler, den niemand wirklich kennt, der aber alle kennt, da er alle jeden Tag von oben herab sieht und beobachtet. Viel direkten Kontakt hat er mit den Menschen nicht, aber er ist auch kein Unbekannter. Er lässt sich im Wirtshaus sehen und handelt auch mit den fahrenden Händlern. Aber immer scheinen dies nur Ausflüge aus seiner Gedankenwelt zu sein. Immer extremer und auch scheinbar durchgedrehter kommen seine Gedankenflüsse daher, bis sie am Ende fast in ein Unglück münden.

Dabei wirkt Jakob nicht einmal unsympathisch, allenfalls etwas seltsam, wenn man so will. Immer wieder denkt man, dass so manches einfacher sein könnte, wenn man zur rechten Zeit einmal den Mund aufmachen würde anstatt zu überlegen und alles in sich hineinzufressen. Und das Schreckliche ist, dass jeder dies von sich selbst kennt und sich daher selbst an vielen Stellen des Buches wiederfindet und wiedererkennen kann. So hat man auch nach der Lektüre noch einiges zu überlegen, ein Effekt, den nur wenige Bücher nach sich ziehen.

Historisch persönliche Sichtweise

Den Krieg erlebt man auch aus Jakobs Perspektive. Die Religionen spielen in dieser Zeit eine große Rolle, in das katholische Freistadt fallen die Protestanten ein - mit Hilfe von Raffael, den Jakob nie gemocht hat. Freistadt galt immer als uneinnehmbar und Jakob fühlt sich als Türmer des Schlossturmes natürlich noch sicherer. Durch die Grenzänderungen nach dem Krieg verliert Freistadt seine Privilegien und seine exponierte Stellung als Grenzstadt, und so kehrt wieder Ruhe ein und Jakob kann sich nach langen Unterbrechungen wieder seinen Schneeflocken widmen. Da kommen neue Dinge in die Stadt, die endgültig die alten Zeiten vergessen lassen. Und das in Form von Kaffee und Tabak.

Lehner verschafft dem Leser keine globale Sicht auf die Dinge, er erklärt keine Zusammenhänge, aber das ist auch nicht nötig. Der Leser ist immer genauso wissend und unwissend wie Jakob, Gerüchte und Wahrheiten bestätigen sich oder auch nicht, wie im richtigen Leben. Deswegen sind wir dem Buch und Jakob so nah, weil es nicht über den Dingen und der Geschichte steht, sondern von jedem Leser hätte geschrieben werden können.

Leider gibt es keinerlei Anhänge. Eine Karte von Freistadt oder ein historischer Abriss der betreffenden Stadtgeschichte Freistadts wäre eine erfreuliche Ergänzung gewesen, aber vielleicht wurde das ja weggelassen, weil es auch Jakob nicht interessiert hätte. Wer sich auf dieses Buch einlässt, liest etwas ganz Besonderes, wenn er es denn durchhält. Sprachlich ist „Der Schneeflockenforscher" nicht schwer zu lesen, aber streckenweise geht es auch nicht voran. Eine Handlung ist durch das viele Denken manchmal nicht möglich, aber irgendwie liest man trotzdem weiter, weil man nie weiß, für welche der bis ins Extreme ausgewalzten Möglichkeiten sich Jakob nun entscheidet. Es ist kein verkopftes Buch, aber ein sehr intensives, auf das man sich erst einmal einlassen muss. Dann aber lässt es einen nicht mehr los, ob man will, oder nicht.

Der Schneeflockenforscher

Fritz Lehner, -

Der Schneeflockenforscher

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