Tatjana Rese

„Mit klugem Witz den Hals aus der Schlinge ziehen“

10.2017 Die Histo-Couch im Interview mit Tatjana Rese über ihren Schreibpartner Mathias Eckoldt, Martin Luther und die Wormser Geschichte.

Histo-Couch: Musical, Rockoratorium, Hörspiel – was ist das Faszinierende an dem Menschen Martin Luther, dass Sie noch einen Krimi geschrieben haben?

Tatjana Rese: 2013 hatte unser Musical „Luther! REBELL WIDER WILLEN“ am Theater in Eisenach Premiere. Durch die Recherchen für das Libretto war die Person Luther in all seiner Widersprüchlichkeit zunehmend interessant für mich geworden. Die Zeit, in der er lebte und wirkte, war eine Zeit größter Umbrüche, auch das faszinierte mich. Nicht zuletzt, weil mir dieses Leben zwischen Mittelalter und Neuzeit vergleichbar scheint mit der Situation, in der wir uns heute befinden: Wir leben inmitten einer riesigen Umwälzung, sind unsicher, zum Teil fühlen wir uns wurzellos und können uns nicht vorstellen, wohin die Entwicklungen führen. Das muss das Lebensgefühl der Zeitgenossen Luthers gewesen sein.

Histo-Couch: Warum der Krimi?

Tatjana Rese: Weil es uns reizte, diesen „historischen Helden“ mit einer trivialen Mordgeschichte zu konfrontieren. Was würde er tun, wie würde er sich verhalten, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen?

Als Tatort haben wir uns für Worms entschieden. Hier hielt sich Luther nur wenige Tage auf, der Handlungszeitraum war also begrenzt. Zudem bietet die total überfüllte Stadt zur Zeit des Reichstags 1521 eine wunderbare Kulisse für einen Krimi. Das gesamte politische Deutschland war versammelt, und man kann die Ränkespiele in den Hinterzimmern fast riechen. Dabei haben wir die recht genau überlieferten Geschehnisse um Luthers Anhörungen vorm Kaiser als Hintergrund gewählt, vor dem sich unsere Krimihandlung abspielt. Diese Perspektive war insofern neu, da ich im Musical und in dem drei Jahre später entstandenen Rock-Oratorium eher eine Zeitreise durch einige wichtige Lebensstationen Luthers mache. Zudem erfordern diese Genres eine viel höhere Abstraktheit in der Erzählweise. Im Roman muss auch der Alltag, jedes Detail genau erzählt werden.

Histo-Couch: Beruht der Krimi auf historischen Überlieferungen?

Tatjana Rese: Der Aufenthalt des Augustinermönchs in Worms, die Verhöre, der Geleitbrief des Kaisers u.s.w. sind in Urkunden und Protokollen recht gut belegt. Allerdings gibt es beträchtliche Lücken innerhalb der Tage zwischen den Anhörungen und der Abreise Luthers. Diese Lücken haben wir genutzt, um die Kriminalhandlung hinein zu spinnen.

Bei unseren Recherchen sind wir auch auf Widersprüchlichkeiten in den Quellen gestoßen. Wir kennen alle die – inzwischen widerlegten – Legenden vom Tintenfass, das Luther gegen den Teufel warf, von den Thesen, die er in einer Nacht- und Nebelaktion eigenhändig an das Tor der Schlosskirche gehämmert haben soll bis zum wohl berühmtesten Zitat; „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Wir haben uns deshalb einen Spaß gemacht und als Motto ein Zitat vorangestellt, das es gar nicht gibt, wir zitieren aus einem Fake-Brief, in dem Luther an einen Freund schreibt, dass „sich alle Teufel zu Worms versammelt hätten“, er in „Mordgruben“ schauen musste, aber „mit klugem Witz den Hals wahrhaftig im letzten Augenblick aus der Schlinge ziehen“ konnte. Die meisten entdecken den Fake nicht, obgleich wir einen Hinweis geben.

Histo-Couch: Für das Musical „Luther! Rebell wider Willen“ und das Hörspiel „In tiefer Not“hatten Sie sich ja schon seit vielen Jahren mit Luther und der Zeit beschäftigt. Mussten Sie für den Krimi neu recherchieren?

Tatjana Rese: Ja – und zwar die alltäglichen Dinge. Was haben die Menschen um die Zeit für Kleidung getragen, welcher Stand trug was? Was haben sie gegessen? Wir haben auch nachgeforscht, welches Wetter im April 1521 in Worms herrschte. Wann ging die Sonne auf, d.h. war es, wenn um 6:00 Uhr die Verhandlungen begannen, schon hell? Die Stadt wurde später größtenteils zerstört. Wir mussten in alten Unterlagen die Entfernungen von den Gebäuden, die bei uns eine Rolle spielen, recherchieren.

Histo-Couch: Das sollte jeder Autor eines historischen Romans tun. Gab es besondere Dinge, die Sie für einen Krimi wissen mussten?

Tatjana Rese: Auch das weiß jeder Krimiautor: Der Tathergang muss präzise nachvollzogen werden können, auf die Minute genau: Wie lange hätte es gedauert, von Punkt A zu Punkt B zu kommen. Zu Fuß, zu Pferd. Nachts auf menschenleeren Gassen oder am Tage. Eine wichtige Rolle spielen in unserer Krimihandlung ein Drucker und sein Geselle. Wir mussten also wissen, wie lange ein Setzer damals brauchte, um eine bestimmte Menge an Wörtern zu setzen. Was uns an Informationen fehlte, merkten wir erst beim Schreiben. Ein Krimi braucht eine knallharte Logistik. Da half es sehr, dass wir zu zweit schrieben und im Dialog die Vorgänge immer wieder kritisch hinterfragten. Den Leser mal auf eine falsche Fährte zu locken, mal ein paar spannende Informationen zukommen zu lassen, dieses Spiel macht zusammen durchaus Spaß.

Histo-Couch: Dafür ist Matthias Eckoldt der perfekte Partner?

Tatjana Rese: Wir arbeiten schon seit vielen Jahren zusammen, auf unterschiedliche Weise: Ich habe als Regisseurin zwei Stücke von ihm zur Uraufführung gebracht, wir haben Hörspiele gemeinsam geschrieben.„Freies Geleit für Martin Luther“ ist zudem mein erster Versuch in der Prosa und Matthias’ Erfahrung hat bei diesem Ausflug geholfen.

Histo-Couch: Der Protagonist des Krimis ist nicht Luther, sondern sein Ordensbruder Johannes Petzensteiner. Warum?

Tatjana Rese: Wir wollten Luther einen Gefährten geben, durch dessen Augen der Leser das Geschehen betrachtet. Dieser Begleiter sollte ein eher schlichtes Gemüt haben, damit eine reizvolle Spannung für den Leser entsteht, auch, was seinen Blick auf Luther betrifft. Im modernen Krimi ermittelt mindestens ein Kommissar mit Partner oder sogar ein Team. Ihre Diskussionen nehmen die Leser mit auf die Suche nach dem Mörder, lassen sie an dem Erkenntnisprozess teilhaben. Die Spannung entsteht aus den Gesprächen zwischen den beiden Figuren. Auch bei uns lösen die Romanfiguren gemeinsam den Fall.

Histo-Couch: Gab es Petzensteiner wirklich?

Tatjana Rese: Es gab den Augustinerbruder Johannes Petzensteiner, der später als Pastor wirkte. Über ihn ist wenig bekannt, deshalb bot es sich an, sich ihn aus der Historie zu borgen, um ihn Luther zur Seite zu stellen.

Histo-Couch: Obwohl die beiden den Mörder finden, schreit die Ungerechtigkeit des Schlusses zum Himmel.

Tatjana Rese: Mit Absicht. Wir wollten den Leser mit einer politisch motivierten Tat ohne Folgen für den Mörder entlassen: „Wer bei den Wölfen sein will, muss zuweilen mit ihnen heulen.“, sagt Martin Luther.

Histo-Couch: Bevor ich Sie entlasse, möchte ich hören, was Sie demnächst vorhaben.

Tatjana Rese: Für das Frühjahr 2018 bereiten wir ein Theaterprojekt für das Theater der Jungen Welt in Leipzig vor: Im Zentrum steht Matthias Eckoldts Sachbuch: „Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“, es wird auch um die Fragen unseres Bewusstseins gehen. Für 2019 denken wir über einen neuen historischen Krimi nach.

Das Interview führte Amandara M. Schulzke. Vielen Dank an Tatjana Rese.

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