Jagd nach Vergeltung

  • dtv
  • Erschienen: Oktober 2022
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Michael Drewniok
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Histo-Couch Rezension vonAug 2023

Teerzopf-James-Bond gegen Napoleon

1803 herrscht Napoleon Bonaparte als „Konsul auf Lebenszeit“ über Frankreich. Der spätere Kaiser verfolgt eine aktive und kriegerische Außenpolitik, die ihn auf Konfrontationskurs vor allem mit Großbritannien bringt. Gerade erst wurde der Friede von Amiens geschlossen, doch Napoleon reizt den Inselnachbarn durch offen auf Erweiterung seines Herrschaftsbereiches gezielte Aktionen im kontinentalen Europa. Nicht unerwartet erklärt Großbritannien Frankreich daher am 18. Mai den Krieg.

Das britische Königreich ist eine Seemacht und wegen seiner gewaltigen Flotte kein leichter Gegner. Ein direkter Angriff auf die Inseln England oder Irland ist riskant, weshalb Napoleon seine Invasionsvorbereitungen streng geheim hält. In London weiß man um seine Absicht, muss aber sicher sein, wo die Angreifer englischen Boden betreten wollen. Der Geheimdienst reaktiviert deshalb einen seiner besten Männer: Captain Thomas Grey. Eigentlich ist er außer Dienst, seit seine Gattin auf hoher See durch einen französischen Kanonenschuss aus dem Hinterhalt umkam. Grey gedenkt seine Heimat zu verlassen und in die noch jungen USA umzusiedeln. Doch als Sir Edward Banks, Chef des Marine-Geheimdienstes und ein väterlicher Freund, an sein patriotisches Gewissen appelliert, kann Grey nicht ablehnen.

Ein lebensgefährlicher Auftrag wartet auf ihn: Grey soll sich als Verräter ausgeben, der strategisch wichtige militärische Unterlagen gestohlen hat, die er an die Franzosen verkaufen will. Mit einer entsprechenden Legende ausgestattet, gelingt ihm tatsächlich die Kontaktaufnahme. Doch der Plan ist nicht perfekt, sodass Grey ausgerechnet in Paris um seine Mission und sein Leben kämpfen muss ...

Pflicht & Ehre, Seemannsmantel & Degen

Früher war bekanntlich/angeblich alles nicht unbedingt besser, aber einfacher, weshalb man sich auch die zeitgenössische Spionage - hier im gerade begonnenen 19. Jahrhundert - viel unkomplizierter vorstellen muss/soll; dies nicht nur, weil von Hightech (bis auf eine Ausnahme) keine Rede sein kann, sondern vor allem auch deshalb, weil der Lebensalltag Gesetzen und noch mehr Regeln folgt, die in der zynischen Gegenwart aufgrund ihrer plakativen Direktheit eher komisch wirken: Welcher Spion in lebensgefährlicher Situation würde sich heute wohl auf das Wort eines Feindes verlassen, der verspricht ihn nicht zu verraten?

Romane wie „Jagd nach Vergeltung“ leben von einer farbenfroh-unterhaltsamen Vergangenheit, die keineswegs penibel den Vorgaben folgen muss. Autor Joshua H. Gelernter legt zwar in einem Nachwort seine Quellen offen, gibt aber gleichzeitig zu, dass er die historische Realität hier und dort zu Gunsten seines Abenteuergarns verbogen hat. Dies ist durchaus legitim, denn Gelernter berücksichtigt stattdessen die Hauptpflicht des Erzählers und präsentiert uns, dem Publikum, eine unterhaltsame Geschichte.

Deshalb ist unwichtig, dass es zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse keinen britischen Geheimdienst gegeben hat. Gelernter setzt auf die Vergangenheit als Folie interessanter Ereignisse. Eine Metaebene betritt er, wenn er auf die Vorkenntnisse einer Leserschaft setzt, die mehrheitlich in der Lage sein dürfte, die breitkrümelig gestreuten Hinweise auf die Verwandtschaft zwischen Thomas Grey und James Bond zu erkennen. Der „Marine-Geheimdienst“ ist erinnert bereits sehr an MI5, und es gibt mit Sir Edward Banks einen knurrig-großherzigen „M“-Chef. Nur Moneypenny ist noch männlich ...

Die Kunst der eleganten Tücke

Auch 1803 dürfte der Agentenalltag bereits komplizierter gewesen sein. Thomas Grey benötigt primär Gottvertrauen (oder Selbstbewusstsein) und nur in zweiter Linie eine lückenlose Legende, um erstaunlich problemlos weit ins gegnerische Agentennetz vorzustoßen, bevor dort doch jemand misstrauisch wird und - Greys französische Kontaktleute sind peinlich berührt ob solcher Aufdringlichkeit; man ist doch unter Gentlemen! - Belege für brauchbare Geheiminformationen fordert.

Wenn Grey dann in Schwierigkeiten gerät, so liegt das auch an jener Ablenkung, die in keinem (historischen) Thriller fehlen darf: Der Held ist abgelenkt; meist ist die Liebe ursächlich, aber dieses Mal steht Rache im Vordergrund. (L’amour wird aber nicht gänzlich ausgeklammert; Gelernter weiß, dass man auch Leserinnen dorthin locken kann/muss, wo Männer mit Degen rasseln.) Selbstverständlich sorgt der dem Verfasser unterworfene Zufall dafür, dass Grey in Frankreich ausgerechnet jenem Mann begegnet, der die (in Flashbacks mehrfach heraufbeschworene) Gattin auf dem Gewissen hat. Problem für Grey: Der Kerl ist nett - und er hat eine hübsche Schwester!

Aber ein Mann tut, was ein Mann tun muss, und Pläne ändern sich bzw. scheitern. Also muss sich Grey mitten im Feindesland verletzt und verlassen dorthin durchschlagen, wo Sir Edward un-be-dingt Napoleons Invasionspläne unter die Lupe nehmen muss! Grey entwischt also aus einer (bemerkenswert miserabel gesicherten) Folterkammer. Dem schließt sich die genretypische Hetzjagd an, die Greys Findigkeit (bedingt) auf die Probe stellt. (Seine Häscher sind nicht unbedingt die hellsten Kerzen auf Frankreichs Kuchen.) Immer wieder entwischt er dort, wo man es sich (zumindest so, wie es der Autor schildert) kaum vorstellen kann, und kommt selbstverständlich noch rechtzeitig heim, um dem Feind in die Suppe zu spucken! Außerdem hat denn der Chef schon den nächsten Auftrag in petto. (Teil 2 der Grey-Serie ist sogar hierzulande bereits erschienen.)

Stürmen statt denken

Erstaunlich, in welchem Tempo man auch ohne Auto, Eisenbahn oder gar Flugzeug durch Europa eilen kann ... Gelernter hält sich nicht mit Logik auf, wenn es gilt die Handlung voranzutreiben. Grey ist glücklicherweise in guter Kondition und schüttelt auch eine mehrtägige Folter mühelos ab, um sich per Postkutsche und zu Fuß eilig dorthin zu begeben, wo sich nicht nur der Primärknoten unserer Handlung schürzt, sondern auch für die so grausam beendete Liebe abgerechnet werden kann.

Ausgerechnet im letzten Viertel gerät Gelernter aus dem Takt. Man wartet auf einen spektakulären Höhepunkt, doch der fällt aus bzw. reiht sich nur in eine Serie sehr ähnlicher Scharmützel ein; immerhin kommt nun endlich eine zuvor auffällig/zufällig ins Spiel gebrachte Geheimwaffe ins Spiel, wobei man Grey die Daumen drückt, dass dieses in der Tat historische, aber recht empfindliche und komplizierte Stück so funktioniert, wie es der Autor einsetzen will.

400 Seiten währt dieser wilde Ritt, der qualitativ nie an C. S. Forester oder Patrick O’Brien anknüpfen kann (obwohl Gelernter letzteren als Vorbild nennt). Er endet wie gesagt mit einem Anfang; Captain Grey muss umgehend wieder irgendwo ein Feuer löschen. So kann das weitergehen, solange die Leser die entsprechend gestrickten Abenteuer goutieren. J. H. Gelernter ist vorbereitet; als eher fleißiger als tiefgründiger Autor schreibt er unter dem ‚Pseudonym‘ „Josh Haven“ parallel zur Grey-Serie Thriller, die sich ebenfalls durch Handlungsschwung oder wenigstens Tempo auszeichnen.

Fazit

Der Start in eine Serie ‚historischer‘ Abenteuerromane treibt den üblich-aufrichtigen Helden durch ein Szenario einschlägiger Gefahren zu Wasser und zu Lande; aufgrund des hohen Tempos und der ökonomisch eingesetzten ‚Fakten‘ eine leichte, unterhaltsame Lektüre.

Jagd nach Vergeltung

J. H. Gelernter, dtv

Jagd nach Vergeltung

Weitere Bücher der Serie:

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