Helena
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- Erschienen: Januar 2010
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- , 2010, Titel: 'Helena', Originalausgabe
Schönheit ist alles! Alles!
Kurzgefasst:
Vergötterung, Flucht, Liebe, Entführung, Vergewaltigung. Bin ich noch Helena?, fragt sich die schöne Prinzessin aus Sparta, nachdem sie von Paris verschleppt und geschändet wurde. Schönheit verspricht in Mahlknechts Neuerzählung der griechischen Sage kein Glück. Um dem Werben der Freier zu entkommen, entflieht Helena mit Theseus nach Aphidnai. Doch nach diesem freiwilligen Akt muss sie sich Zwängen unterwerfen, die von Männern bestimmt werden: Von den Lakoniern wieder nach Hause geholt, wählt sie unter den Werbern Menelaos, den Prinzen von Mykene, weil eine Entscheidung getroffen werden muss. Während dessen Abwesenheit wird sie von Paris entführt, doch wie schon bei Euripides kommt Helena nie in Troja an, sondern landet, von Paris gegen Hilfsgüter an einen hohen Beamten verkauft, in Ägypten. Als Gesellschafterin der schönen Nofret, der jungen Gemahlin des Sethos, lebt sie als willenlose Gefangene einer fremden Welt fernab vom Toben des Krieges in Troja.
Helena ist schön. Alle anderen verblassen neben ihr, alle bewundern sie, ihre Zwillingsbrüder liegen ihr zu Füßen und wollen sie heiraten. Helenas Halbschwester Klytaimnestra haßt sie aus ganzer Seele, denn selbst dann, wenn Helena völlig versagt, wird sie bejubelt - nur weil sie schön ist. Klytaimnestra dagegen kann etwas richtig gut machen, sie wird nie die Anerkennung finden die ihr zusteht, solange Helena alle Augen auf sich zieht. Helena fühlt sich einsam am Königshof von Sparta, trotz aller Huldigungen. Sie spürt, dass ihr die allseitige Bewunderung ihrer Schönheit gleichgültig ist und sie möchte als Mensch wahrgenommen werden.
Bei einem Fest ergreift sie die Gelegenheit und verlässt Sparta gemeinsam mit Theseus und Peirithoos. Theseus bringt sie zu seiner Mutter Aithra und Helena lernt in ihr erstmals einen Menschen kennen, der sie nicht bedingungslos anhimmelt, sondern Forderungen an sie stellt. Aithra wird für die junge Königstochter zum festen Halt und zu ihrer ständigen Begleiterin für lange Jahre.
Als Helenas Zwillingsbrüder Castor und Polydeukes kommen, um die Schwester wieder nach Hause zu holen, geht auch Aithra mit an den Königshof in Sparta. Viele Freier warten hier bereits auf das Mädchen und Helenas Vater scheut sich, eine Entscheidung zu treffen. Er fürchtet den Zorn der Zurückgewiesenen. Daher lässt er Helena selbst wählen und alle Freier schwören, die Wahl der Prinzessin zu akzeptieren und den Auserwählten auch zukünftig zu unterstützen. Helena jedoch fühlt sich mit der Wahl überfordert. Einzig Odysseus, der Ruhelose, weckt wirklich ihr Interesse, aber er verlässt Sparta bald wieder. Helena wählt schließlich Menelaos, den Mann, der ihr am wenigsten kriegerisch erscheint. Gleichzeitig wird ihre Schwester Klytaimnestra mit Agamemnon, dem Bruder des Menelaos verheiratet.
Helena und Menelaos leben zusammen und haben Kinder. Der so wenig kriegerische Menelaos muß als König von Sparta Waffenübungen absolvieren, aber eigentlich sind beide recht glücklich. Als jedoch Menelaos seinen Bruder Agamemnon besucht, wird Sparta von Paris und Hektor, Kriegern aus Ilion, überfallen. Die beiden nehmen die schwangere Helena als Kriegsbeute mit. Aithra folgt ihnen, sie will Helena nicht allein lassen.
Auf der Fahrt nach Ilion gerät das Schiff zunächst in eine tagelange Flaute, dann in einen Sturm. Helena, vergewaltigt und misshandelt, bringt ihren Sohn zur Welt und versucht irgendwie zu überleben. Schließlich landet das Schiff in Ägypten und Helena wird gegen Lebensmittel eingetauscht, die den Entführern die Rückkehr in die Heimat ermöglichen sollen. Helena bleibt als Sklavin in Ägypten zurück. Sie ist jetzt Menat, die Amme, und ein anderes Leben wartet auf sie.
Einfach und gradlinig erzählt
Selma Mahlknecht schreibt ihren Roman aus der Sicht Helenas. So erhält der Leser einen besonderen Blick auf die Ereignisse. Dabei greift die Autorin eine Variante der Helena-Sage auf, nach der Helena nie in Troja angekommen, sondern nach Ägypten verkauft worden sein soll. Die Geschichte führt zwar in die sagenvolle Zeit der Antike, ist dabei jedoch so zeitlos und gleichnishaft, dass sie praktisch jederzeit spielen könnte - wenn denn der Leser nicht ständig im Kopf hätte, dass es hier um eine Epoche lange vor Homer geht.
Zwar wird die Geschichte der schönen Helena erzählt, aber die Autorin hat tief auf den Grund der Sage geschaut, sie von mythologischem Nebel befreit und zeigt dem Leser nun eine realistische Welt, in der zwar die sattsam bekannten Helden auftreten, in der jedoch die Politik nicht von Göttern, sondern von nur allzumenschlichen Begierden gelenkt wird. Nicht Aphrodite führt Paris und Hektor nach Sparta, sondern einfach der Wunsch nach Beute, reicher Beute, und Helena ist keineswegs das Objekt der Begierde, sondern einfach willkommene Draufgabe auf die geraubten Schätze.
Mahlknechts Helena weiß, dass sie schön ist. Und sie hat gelernt, zu dieser Äußerlichkeit auf Distanz zu gehen. Geradezu verzweifelt ringt sie darum, als Mensch mit Fehlern wahrgenommen zu werden, aber es gelingt ihr nicht, solange sie das Etikett "Schöne Helena, Prinzessin von Sparta" mit sich herum trägt.
Klytaimnestra indessen verlor die Geduld. ´Laß mich doch einfach in Ruhe! Was weißt du schon davon?', schrie sie.
,Du hast doch alles!'
,Ich habe nur meine Schönheit', entgegnete ich, noch leiser, noch kläglicher.
,Eben! Schönheit ist alles! Alles!' Er gellt mir noch heute im Ohr, dieser furchtbare, verzweifelte Schrei meiner Schwester: ,Schönheit ist alles. Alles.'
Sie erlebt ihre Schönheit geradezu als Fluch, der sie zwar einerseits zu einer begehrten Ware macht, der sie andererseits aber von anderen Menschen abgrenzt und sie nicht vor den Launen und Torheiten der Männer schützt. Durch Aithra lernt sie, die Welt der Männer als eine Welt prahlerischer, aggressiver Kinder wahrzunehmen.
Nun begriff ich es. Meine Brüder flohen. Sie stürzten sich in ein Leben voller Heldentum, voller Ungeheuer und Gefahren. In ihren Stimmen war ein neuer Ton, in ihren Gesichtern ein Ausdruck der Begeisterung, den ich noch nie gesehen hatte. Wie fremd sie mir geworden waren.
Zwar versucht Helena, sich gemeinsam mit Menelaos eine eigene Welt aufzubauen. Aber sie bemerkt schnell, dass diese Welt ein fragiles Gebilde ist, ungeeignet um stärkeren Belastungen zu widerstehen. Als Paris Helena entführt, ist ihr klar, dass ein Krieg damit unausweichlich wird. Ihre Warnungen wollen jedoch weder Hektor noch Paris hören. Die Trophäe Helena ist ihnen weit wichtiger als die Sicherheit ihrer Heimat Ilion/Troja. Als es jedoch ums eigene Überleben geht, lassen sie Helena ohne Bedauern in Ägypten zurück.
Der Sinn des Lebens
Selma Mahlknecht gelingt es, ihre Leser in eine philosophische Auseinandersetzung hinein zu ziehen, die so facettenreich, spannend und packend ist, wie ein Roman eben sein kann. Helenas Sicht der Dinge ist schnörkellos und beschönigt nichts. Psychologisch tiefgründig beschreibt sie verschiedene Frauenbilder: Die Schöne, die Ehefrau, die Mutter, die "Milchkuh", die Vergewaltigte, die Dienerin. Helena ist auf der Suche nach dem Sinn ihres Daseins. Anfänglich weitgehend inaktiv lässt sie einfach geschehen, was da eben geschehen soll. Erst im Laufe der Zeit gelingt es ihr, selbst die Initiative zu ergreifen. Ihre schlichte Sprache zieht den Leser in den Bann.
Aithra war ein Fels, kantig, fest und unverrückbar. Ich dagegen war nichts als weißer Sand, auf dem andere ihre Spuren hinterlassen hatten. Das Meer war über mich hinweg gerollt und hatte alles ausgelöscht. Nun wartete ich auf die Nächsten, die kommen und mich zeichnen würden.
Sie lernt, Demütigung und Zurückweisung zu ertragen, sie lernt, sich Liebe durch Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erkämpfen. Aber es ist ihr nicht möglich, zu sich selbst zu stehen. Erst als es Helena gelingt, sich zu ihrer Herkunft und ihrer Geschichte zu bekennen, als sie zu ihrer Herrin/ Freundin Nofret steht, findet sie auch zu dem Sinn ihres Lebens. Und da Helena die Erzählerin ist und besagte Helena gar nicht in Troja ankommt, findet der Trojanische Krieg in diesem Buch auch nur als fernes Gerücht statt. Kein Platz für testosterongesteuertes Heldentum.
Im Sog der Geschichte
Selma Mahlknecht erhielt für diesen Roman den Sir Walter Scott- Preis 2012. Hat man Helena"einmal in die Hand genommen, mag man den Roman nicht mehr zur Seite legen. Die Kapitel sind kurz und treiben den Leser förmlich voran. Dabei ist der Sprachduktus eher ruhig und sachlich, ohne überschäumende Emotionen. Nur gelegentlich schleicht sich eine naive Ironie ein. Und doch wirkt die Sprache an vielen Stellen ausgesprochen poetisch. Immer wieder finden sich im Text Denkanstöße und Stolpersteine. Und nicht jede Frage, die sich beim Lesen in den Kopf schleicht, wird von Helena beantwortet. Es bleibt viel Raum für eigenes Denken. Selbst der Schutzumschlag der Hardcover-Ausgabe regt mit seiner einfühlsamen Gestaltung dazu an.
Die glaubhafte Geschichte einer Frau, die für das, was sie tut Anerkennung haben möchte und die dorthin einen schweren Weg zu gehen hat. Ein ganz und gar wunderbares Buch!
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